Der Chirurg von Campodios
nicht, dass er von ihr Abstand nehmen wollte. Beide hatten es sich in den vergangenen Tagen zur Gewohnheit werden lassen, die Abende mittschiffs beieinander zu sitzen. »Nun ja, und Mond heißt
luna
.«
»’s haste mir auch schon gesacht.«
Ambrosius biss sich auf die Lippen. Immer wenn sie so dicht bei ihm saß, fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er bemerkte, wie sie nach seiner Hand tastete, sie nahm und sich in den Schoß legte. Ein Sturm der Gefühle brach in ihm los. »Der Sirius scheint heute Abend wieder besonders schön«, hörte er sich murmeln. »Sieh mal nach oben, hinter dich, dort kannst du ihn erkennen.«
Aufatmend registrierte er, wie sie seine Hand freigab und den Kopf nach oben wandte. »Sirius ist der hellste Stern überhaupt«, sagte er.
»Der is schön«, stellte sie fest, während sie weiter nach oben starrte. »Obda wohl auch Gott is?«
»Dort oben auf dem Sirius?« Er zögerte kurz, dann antwortete er: »Ja, meine Tochter.«
»Un da? Da auch?« Sie zeigte auf eine leuchtende Sternengruppe neben Sirius.
»Du meinst das Sternbild des Orion. Ja, auch dort ist Gott.« Ambrosius wies nach Norden. »Auch auf jenen Sternen, die den Großen Wagen mit der Deichsel bilden.«
»Ohhh, ich seh’s, ’s is ’n Wagen, ’n richtiger Wagen isses. Un überall da is Gott?« Wie selbstverständlich nahm sie wieder seine Hand.
»Ja, Gott ist allgegenwärtig, und in der Heiligen Schrift heißt es:
Er allein breitet den Himmel aus
und geht auf den Wogen des Meeres.
Er macht den Wagen am Himmel und den Orion
und das Siebengestirn und die Sterne des Südens.
Er tut große Dinge, die nicht zu erforschen,
und Wunder, die nicht zu zählen sind.«
»Oh, ’s klingt schön, wasde da sachst, schön klingt’s.«
»Ja, es ist ein Vers aus dem Buch Hiob. Sicher hast du schon einmal von Hiob gehört, jenem Mann, dessen Frömmigkeit Gott der Herr erproben wollte, indem er ihn mit zahlreichen schlechten Botschaften heimsuchte.«
»Un? Hatter bestanden?«
»Ja, Hiob hat die Prüfungen bestanden. Aber es war schwer für ihn, sehr schwer.«
»Wir haben ’s auch nich leicht, nich? Aber ich denk, wir schaffen’s, genau wie der Hiob. Müssen nur zusammenhalten.« Sie drückte seine Hand.
Ein warmes Gefühl durchströmte ihn, und unwillkürlich hörte er sich sagen:
»Amica optima vitae possessio!«
»Was sachste? ’s hab ich nich verstanden. Irgendwas is schön im Leben oder so, nich?«
»Richtig, äh … Ich sagte, eine Freundin ist der schönste Besitz im Leben.«
»Ohhh …« Ihr fehlten die Worte. »Das hat … das hat noch nie nich jemand zu mir gesacht.«
Sie nahm seine Hand und drückte sie sacht, ganz sacht gegen ihre Brüste.
Am übernächsten Tag gegen Mittag deutete sich ein Wetterumschwung an. Die Sonne verschwand hinter milchigen Schleiern, und die Dünung im Meer wurde lang und schwer. Wind kam auf, der ihnen zunächst Erfrischung brachte, dann aber, als er stärker und stärker wurde, zu Besorgnis Anlass gab. Hewitt rief vom Heck: »Ich fürchte, wir kriegen einen kapitalen Sturm!«
»Dann gnade uns Gott«, krächzte der Magister. Er litt heftigen Durst. Seine Zunge war dick angeschwollen und machte ihm das Sprechen nahezu unmöglich. Als das Trinkwasser zur Neige gegangen war, hatte er wie einige andere, trotz Hewitts eindringlicher Warnung, heimlich Meerwasser getrunken – danach war seine Mundhöhle nur noch trockener geworden, und starke Leibschmerzen hatten sich eingestellt.
»Können wir ihm davonsegeln?«, fragte Vitus.
Hewitt, der die Pinne führte, spreizte die Beine, um im Sitzen mehr Halt zu finden. Die Dünung war höher geworden. »Nein, wir können dem Sturm nicht ausweichen, und wir können auch nicht gegen ihn ansegeln. Wir müssen ihn durchstehen, ob wir wollen oder nicht. Wir sollten das Segel wegnehmen, bevor es uns davonfliegt, und wir sollten alles, was nicht niet- und nagelfest ist, doppelt und dreifach verzurren. Besonders die Wasserfässer.«
»Wenn es so ist«, sagte Vitus, »dann nichts wie an die Arbeit!«
So schwach sie auch waren, begannen sie doch sofort mit den notwendigen Tätigkeiten. Jedes weitere Wort erübrigte sich. Als sie nach mühsamer Plackerei endlich mit allem fertig waren, hatte das Bild um sie herum sich völlig verändert: Obwohl es früher Nachmittag war, herrschte nun dämmriges Licht. Die Windböen hatten an Stärke und Zahl zugenommen und heulten gewaltig über das Schiff hinweg. Wellen, schwarz und drohend, türmten
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