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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Vorgang überhaupt noch sprechen konnte, war mindestens ebenso wichtig. Der Mönch Ambrosius musste es allein schaffen. Ganz allein.
    Und er schaffte es. Zoll um Zoll, Fuß um Fuß zog er mit übermenschlicher Anstrengung die Leine ein und brachte schließlich, unter Aufbietung der letzten verbliebenen Kräfte, Phyllis’ Körper ins Boot.
    »Gott, Du Allmächtiger, sei gelobt und gepriesen«, betete Vitus. »War das Dein Zeichen, dass Du uns alle erretten willst?«
    Gott allerdings ließ ihm keine Zeit, darüber nachzudenken, denn schon stürzten die nächsten Wogen heran, hieben unbarmherzig auf den Bootskörper ein, krachten gegen alles, was noch fest war und noch Halt hatte – und brachen den Mast. Wie um das Maß der Katastrophe voll zu machen, spürte Vitus im selben Augenblick keinen Druck mehr auf der Pinne – das Ruderblatt war fortgerissen worden.
    Doch aller Zerstörung zum Trotz verhielt die
Albatross
sich jetzt ein wenig ruhiger. Sie tanzte nicht mehr auf den Wellen wie ein Wassertropfen auf der Ofenplatte. Dafür sorgte der Mast, der, von einigen nicht gebrochenen Stagen gehalten, in einiger Entfernung neben dem Schiff trieb. Er wirkte wie ein Treibanker und half auf diese Weise, die Wellenberge besser abzureiten.
    Vitus und Hewitt machten sich daran, ebenfalls Wasser aus dem Bootsrumpf zu schöpfen. Es war eine Sisyphusarbeit, immer wenn das Schiff halbwegs leer war, kam eine neue Woge, donnerte über das Schiff hinweg und vernichtete ihre Arbeit. Wieder begannen sie. Schöpfen, schöpfen, nichts als schöpfen! Auch Phoebe vorn im Bug beteiligte sich daran. Und Ambrosius. Was war mit Phyllis? War sie überhaupt noch am Leben? Schöpfen, schöpfen, schöpfen! Sie verloren jegliches Zeitgefühl. Sie dachten an nichts anderes als an den nächsten Schöpfvorgang: Behälter eintauchen und über Bord ausschütten, eintauchen und ausschütten. Eintauchen und ausschütten. Sie arbeiteten wie die Maschinen, doch sie waren keine Maschinen, sie waren Menschen, nasse, hungernde, zu Tode geschwächte Menschen, denen irgendwann alles egal war …
    März? A. D. 78
    Wir sind wohl die Ärmsten der Armen auf Gottes Welt. Hungernd, krank, ohne Nahrung. Ein wenig Regenwasser haben wir. Zwei oder drei Pints für sieben Menschen. Rationiert. Gesammelt im einzigen Fass, das der Orkan uns ließ. Der Orkan liegt Tage zurück. Er nahm uns alles, auch unsere Hoffnung. Die See ist glatt. Die
Albatross
treibt im Meeresstrom dahin. Mastlos, ruderlos, ohne Kompass und Orientierung. Wir sind nicht mehr wir. Wir reden nicht mehr. Die Zungen würden uns stecken bleiben. Vater im Himmel, hast Du uns verlassen? Vater im Himmel, Du hast uns verlassen.
    Wie durch einen Nebel sah Vitus einen weißen Vogel durch die Luft gleiten. Er umsegelte die
Albatross
mehrmals, beobachtend und abschätzend, und ließ sich endlich, mit breit ausgestellten Schwingen, auf der Spritzabdeckung nieder. Es war eine Möwe. Sie stolzierte mit hoch erhobenem Kopf hin und her, ordnete ihr Gefieder und schielte nach Nahrung. Vor ihr lag eine leblose Hand. Sie pickte dagegen. Erst vorsichtig, dann stärker. Es war Phoebes Hand.
    »Phoebe!«, wollte Vitus rufen, doch aus seinem Mund kam nur ein heiseres Krächzen. »Phoebe! Die Möwe, sie frisst dich auf!«
    Die Möwe hatte bei Vitus’ Warnung kurz aufgeblickt, sich dann aber wieder der Hand gewidmet. Von dem Rufer, das spürte sie, ging keine Gefahr aus. Wieder pickte sie gegen ihre Beute. Ein paar Blutstropfen quollen hervor.
    »Phoebe, so wach doch auf, die Möwe!«
    Die Möwe setzte einen Fuß auf die Hand, um das Fleisch besser heraushacken zu können, da bewegten sich plötzlich die Finger. »Autsch«, murmelte Phoebe schwach, »wassis’n das?«
    Der Vogel flatterte zur Seite und beobachtete sie.
    »’ne Möwe?«, murmelte Phoebe. »Träumich oder wassis?«
    Die Möwe plusterte ihr Gefieder auf.
    Vitus krächzte: »Es ist eine leibhaftige Möwe! Sie wollte dir die Hand aufhacken.«
    »Was? Oh, verdammich!« Phoebe blickte auf ihre blutigen Finger. Dann machte sie eine schwache Bewegung mit dem Arm.
    Die Möwe zuckte zurück, breitete die Flügel aus und erhob sich wieder in die Luft.
    »’s is ’ne leibhaftige Möwe, ’ne leibhaftige Möwe isses.« Phoebe blickte dem Vogel nach.
    »Ja, so ist es«, sagte Vitus, und langsam reifte in seinem Hirn ein ungeheuerlicher Gedanke heran. Möwen, sagte er sich, waren Meeresvögel, sie ernährten sich von dem, was sie aus dem Wasser fischten, aber im Gegensatz

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