Der Chirurg von Campodios
zu Albatrossen, die wochen-, ja monatelang auf See blieben, waren Möwen auch Landtiere. Es waren Tiere, die ihre Nahrung aus dem Meer holten, ansonsten aber jeden Abend an Land zurückkehrten. An Land …
»Land!«, schrie Vitus. »Land! Land! Land!«
Nur langsam kamen die anderen zu sich, und als endlich alle, auch die arme Phyllis, der es besonders schlecht ging, die Bedeutung des Wortes begriffen hatten, riefen sie »Wo? Wo um alles in der Welt?« und reckten die Hälse.
Vitus erklärte ihnen mühsam, dass noch kein Land in Sicht sei, dass vielmehr eine Möwe, die sich auf dem Boot niedergelassen hatte, dafür spräche, dass sich in der Nähe Land befände.
»Wiewo?«, fistelte der Zwerg matt, »inner Nähe? Der Teichflügling is vielleicht schon länger am Flattern, zwei, drei Tag alleweil?«
»Das ist nicht auszuschließen«, gab Vitus zu.
Der Magister blinzelte aus rot entzündeten Augen. »Ach was, ein Ende ist abzusehen.« Sein unverbesserlicher Optimismus kehrte zurück. Er sprach langsam, seine Worte klangen wie aus einem rostigen Rohr. »Ich schlage vor, wir trinken den Rest unseres Regenwassers gleich jetzt.
Carpe diem.
«
Wenig später hatten sie alle einige Schlucke köstlichen Wassers genossen. Dieser Umstand und die Hoffnung, dass ihre Leidenszeit bald ein Ende haben würde, weckte ihre Lebensgeister gewaltig. Seit Tagen kam wieder so etwas wie eine Unterhaltung zwischen ihnen zustande, und irgendwann fragte Phyllis mit schwacher Stimme:
»
Carpe diem
, was heißt’n das, Vater?«
Ambrosius antwortete: »Nutze den Tag, meine Tochter. Eigentlich heißt es ›pflücke den Tag‹. Der Satz stammt von einem römischen Dichter namens Horaz. Nun, wir haben den Tag genutzt, indem wir uns alle mit köstlichem Wasser gestärkt haben. Gott wollte, dass wir es trinken, denn er wird uns erretten, davon bin ich überzeugt.«
»Amen«, murmelte Phyllis und kuschelte sich an ihn.
Trotz seiner grenzenlosen Erschöpfung fiel Vitus in der Nacht nur in einen unruhigen Schlaf. Immer wieder schreckte er hoch und spähte nach Land, wobei er nicht einmal genau wusste, in welche Richtung er Ausschau halten sollte. Er hatte sich zwar gemerkt, wohin die Möwe davongeflogen war, aber jeder Punkt sah in der Dunkelheit gleich aus.
Er musste wohl eine Zeit lang eingenickt sein, anders war es nicht zu erklären, dass plötzlich der Mond durch die Wolken schien und in seinem fahlen Licht sich etwas abzeichnete, das aussah wie ein Stück Küste. Vitus blinzelte und blickte erneut hin. Nein, ein Irrtum war ausgeschlossen. Backbord voraus, die Entfernung war bei dem Licht allerdings nicht abzuschätzen, lag Land. Ein Streifen Land, noch dunkler als die See, und in seinen Konturen brach sich das silberne Licht des Mondes.
»Land!«, krächzte Vitus. »Da vorn, seht nur, Land, Land, endlich Land!«
Sie rappelten sich hoch, stolperten zum Bug, um mehr erkennen zu können, und fielen sich in die Arme. Land! Das Leiden hatte ein Ende. Land hieß Wasser, Nahrung, Kleidung, Land hieß Wärme, Geborgenheit, Gesundheit, hieß andere Menschen, hieß Feiern, Frohsinn, Freude und: Arbeit. Auch Arbeit, denn danach sehnten sie sich ebenfalls, nach guter, harter, ehrlicher Arbeit. Einem geregelten Tagesablauf, in dem alles seine Ordnung hatte, der frühmorgens begann und spätabends endete und dazwischen mit gottgefälliger Arbeit gefüllt war.
Das Land kam näher, sehr schnell näher, doch in ihrer Freude bemerkten sie es nicht. Und je näher das Land kam, desto deutlicher wurde es, dass es kein Land war. Phoebe erkannte es zuerst: »Ich glaub, mich laust der Affe«, flüsterte sie, »’s is kein Land nich, ’s is ’n Fisch, ’n Mordsfisch isses.« Und automatisch fügte sie hinzu: »Nich, Phyllis?«
»Ja, ja, ’n Mordsfisch«, bestätigte Phyllis, wobei sie zu Ambrosius aufschaute, »un Fisch heißt
piscis
, nich, Vater?«
»Jawohl, meine Tochter«, antwortete der Mönch abwesend, denn er starrte wie gebannt auf das Tier, das sich weiter näherte.
»Es ist nur ein Wal«, sagte Hewitt, der seine Enttäuschung nicht verbergen konnte. »Allerdings ein Riesenexemplar. Dem stumpfen, hohen Kopf nach zu urteilen ein Pottwalbulle.«
Während er das sagte, war das Tier ganz nah herangeschwommen und machte nun Halt – nur eine Bootslänge von der
Albatross
entfernt. Ein kleines Auge, tief an der Unterseite des Kopfes sitzend, blinkte im Mondlicht auf. Es musterte sie. Offenbar war der Bulle genauso neugierig auf die Menschen wie
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