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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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die Menschen auf ihn. Mit einer Mischung aus Schrecken, Ehrfurcht und Bewunderung sahen sie, dass er sechzig bis siebzig Fuß in der Länge maß, also mehr als doppelt so lang war wie das Boot.
    »Ich kannte mal einen Walfänger, der hat erzählt, dass diese Wale Tausende von Fuß ins Meer hinabtauchen, um nach Beute zu jagen, und dass sie eine ganze Stunde lang dort unten bleiben können«, erklärte Hewitt im Flüsterton. Angesichts der gewaltigen Ausmaße des Tiers hielt er seine Stimme unwillkürlich gedämpft.
    »Schauriger Gedanke«, krächzte der Magister. »Ich wünschte, das Ungeheuer könnte sich in eine Insel verwandeln. Das wär mir lieber.«
    Ambrosius murmelte: »Ein Leviathan der Meere. Ich bete zum Allmächtigen, dass er uns nichts Böses will. Ein solches Exemplar muss auch den Propheten Jona verschluckt haben.« Und er zitierte:
    »Aber der Herr ließ einen großen Fisch kommen,
    Jona zu verschlingen.
    Und Jona war im Leibe des Fisches
    drei Tage und drei Nächte …«
    Der Magister unterbrach: »Was fressen die lieben Tierchen denn so?«
    »Kraken«, erwiderte Hewitt.
    »Kraken? Da brauchen sie aber Unmengen, um satt zu werden.«
    »Nicht alle sind so klein wie die, die wir gefangen haben. Manche werden genauso groß wie Pottwale.« Offenbar kam Hewitt seine Schilderung selber unglaubwürdig vor, denn er fügte hinzu: »Jedenfalls hat der Walfänger mir das erzählt.«
    Dem Bullen schien völlig gleichgültig zu sein, was man über ihn und seine Nahrung vermutete, er lag ruhig wie ein Fels im Meer, doch jählings, wie als Antwort, stieß er eine riesige Wasserfontäne aus seinem Blasloch. Die Spritzer stiegen so hoch, dass sie über die gesamte
Albatross
hinwegflogen und die Mannschaft durchnässten.
    »Er bläst«, erklärte Hewitt. Kaum hatte er das gesagt, tauchte der Kopf des Wals unter Wasser, die gewaltige Körpermasse bog sich wie eine Brücke nach oben durch, und für einen Augenblick konnten alle die Seite des Bullen in voller Länge sehen. Sie wies zahlreiche weißlich schimmernde Flecken auf, Flecken, in denen sich mehrere Reihen geheimnisvoller, dunkler Abdrücke zeigten, jeder Abdruck kreisrund und so groß wie eine Schüssel.
    Als die Fluke des Wals steil aufgerichtet versunken war, sagte der Magister leise: »Beim Blute Christi, ich ahne, was die Abdrücke zu bedeuten haben: Sie sehen aus, als stammten sie von Saugnäpfen.«
    Ein Schauer lief allen über den Rücken.
    März? A. D. 78
    Ein Tag und eine Nacht sind vergangen, seitdem wir eine Möwe sahen. Vater im Himmel, wo ist das Land? Wie weit kann ein Vogel fliegen? Immer wieder fragen wir uns das.
    War die Möwe Wirklichkeit? In unserer Erinnerung ist alles nur noch ein irrlichterndes Bild, eine Gaukelei des Bösen, die sich an unserer Todesschwäche ergötzen wollte.
    Es ist so heiß, dass tagsüber die Planken schrumpfen. Wir haben kein Wasser mehr. Unsere Kehlen brennen wie Feuer. Frühmorgens warten wir auf den Tau und lecken ihn mit unseren geschwollenen Zungen auf. Die Geißel Durst ist schlimmer als Satan. Dies wird mein letzter Eintrag sein. Wer noch die Kraft hat, betet …
    V. v. C.
    Mühsam, mit den Bewegungen eines uralten Mannes, legte Vitus Schreibzeug und Bordbuch ins Schapp zurück. Dann kroch er unter das Sonnensegel, wo die anderen schon lagen. Der Magister, der Zwerg, Hewitt und Phoebe befanden sich in einem Zustand zwischen Dämmerschlaf und Ohnmacht. Sie drängten sich, trotz der Hitze, eng aneinander, denn das Tuch war für so viele nicht groß genug. Mittschiffs, neben dem Maststumpf, hockte Ambrosius, der seine Kutte ausgezogen hatte und Phyllis damit vor der Gluthitze schützte. Er saß da in zerfetzten Unterkleidern, doch es kümmerte ihn nicht. Die Zeit für Schamgefühl war lange vorbei.
    Stundenlang lagen sie leblos da, während das Wrack der
Albatross
weitertrieb. Weiter und weiter, immer nach Westen, dem rettenden Land entgegen. Doch bevor sie es erreichen sollten, hatte Gott der Allmächtige noch eine letzte, schier unlösbare Prüfung für sie vorgesehen.
     
    Wieder war es Nacht, eine Nacht mit zerrissenen Wolken am Himmel und einem fahlen Mond dazwischen. Ein schwacher Wind wehte aus Südwest und strich über das Wrack der
Albatross
hinweg. Die Wellen des Meeres waren wie schwarzes Glas. Unter dem Boot, aus der Tiefe der See, bewegte sich langsam, aber unaufhaltsam etwas nie Gesehenes an die Oberfläche: Es war ein Leuchtorgan, grünlich schimmernd und hell wie eine Laterne. Es gehörte zu

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