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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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einem mächtigen Kopf mit einem sackartigen Körper daran. Vom Kopf, der die Ausmaße eines mannshohen Wasserfasses hatte, gingen acht Arme ab, jeder so dick wie der Maststumpf des Schiffs, dazu zwei Tentakel, wohl vierzig Fuß lang und damit noch länger als die Arme. Alle zehn Greiforgane waren mit tellergroßen Saugnäpfen bewehrt. Architeuthis, so hieß das Monstrum, hatte aber nicht nur Kopf und Arme von Furcht einflößender Größe, auch seine seitlich sitzenden Augen waren riesig. Sie hatten einen Durchmesser von fünfzehn Zoll und standen damit dem Umfang des papageienartigen Schnabels in nichts nach.
    Nach allen Seiten mit den Tentakeln schlängelnd und tastend begann Architeuthis seine Beute zu untersuchen. Sein Kopf tauchte neben der
Albatross
aus dem Meer auf, während die Haltearme von unten den Rumpf des Boots packten und sich daran festsogen. Dann schlug er seine harten Kiefer ins Heck. Ein Ruck ging durch das Boot. Es knirschte vernehmlich.
    Vitus fuhr aus seinem Dämmerschlaf hoch. »Was war das?«, fragte er schwach. Er lauschte eine Zeit lang. Nichts. Nur das Spiel der Wellen und das Rauschen des Windes waren zu hören. Sein Kopf sank zurück.
    Architeuthis hatte währenddessen von dem Heck der
Albatross
abgelassen. Holz war nicht nach seinem Geschmack. Er bevorzugte die Fische der Tiefsee. Abermals sandte er seine beiden Tentakel aus, die langen Fangarme, welche die Beute packten und den Haltearmen zuführten, damit der Schnabel das Fleisch in Ruhe zerreißen konnte. Sie züngelten und schlängelten im Heckbereich umher, spielerisch fast, wanderten über die Segelplane, krochen darunter, prüften hier, tasteten dort und legten sich schließlich mit ihren äußersten Enden um Vitus’ Hals und Brust.
    »Wa … was ist da …?« Vitus fühlte, wie irgendetwas ihn mit unwiderstehlicher Kraft packte und emporhob. Gleichzeitig schnürte ihm jemand den Atem ab. Er griff sich an den Hals und bekam einen glitschig-feuchten Arm zu fassen. Er riss daran, zerrte, zog mit aller Kraft, doch die Kraft, über die er noch verfügte, war lächerlich klein. Hilflos fuhren seine Hände in der Luft herum, während ihm der Atem knapper und knapper wurde. Das Messer! Die einzige Waffe, über die sie noch verfügten! Er musste es haben, er musste damit diesen Arm durchtrennen. Das Messer war im Schapp, direkt neben ihm.
    Er keuchte. Seine Linke klammerte sich an die Hecksitzbank, seine Rechte fuhr ins Schapp. Das Messer, das Messer, wo war es nur? Da! Seine Hand umschloss das Heft, riss es hoch, führte die Klinge zum Hals. Er röchelte mittlerweile nur noch, riss den Kopf hin und her, als könne er dadurch die Umklammerung von Architeuthis lösen, und schnitt wie wild in das verhasste glitschige Fleisch, sich dabei selbst verletzend. Er spürte es kaum, schnitt und stach weiter, mobilisierte seine letzten Kräfte. Wollte der Druck denn niemals weichen?
    Endlich, die Sinne schwanden ihm schon, ließ die Umklammerung nach. Er atmete durch, sog tief die Luft ein, trank sie förmlich, wieder und wieder. Der tödliche Arm hatte ihn freigegeben! Er fuhr nun, weniger wehrhafte Beute suchend, nach vorn zum Bug.
    Vitus wollte hoch, wollte die anderen warnen, die so schwach waren, dass sie von alledem nichts bemerkt hatten, doch die Sinne schwanden ihm, alles drehte sich plötzlich, und er hatte das Gefühl, er drehte sich mit. Hart schlug er mit der Schläfe auf die Planken.
    Später, er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, rüttelte ihn jemand am Arm. Es war der Magister. »Ein Riesenkrake! Ein Riesenkrake!« Der kleine Mann hatte die Worte herausschreien wollen, aber nur ein heiseres Krächzen war seinem Mund entwichen.
    »Ich weiß. Er hat mich …« Vitus war noch zu benommen, um reden zu können.
    »Da vorn am Mast! Ambrosius und Phyllis!« Die Augen des Magisters waren schreckgeweitet. »Das Ungeheuer will sie erdrosseln!«
    Vitus mühte sich hoch. Für den Bruchteil eines Augenblicks staunte er über sich selbst und darüber, wie viele Kraftreserven ein Mensch freisetzen konnte, wenn es um Tod und Leben ging. Dann war der Gedanke fort, und er erkannte im Mondlicht zwei schattenhafte Gestalten, die sich an der mittleren Ruderbank festkrallten: der lange Ambrosius und die zierliche Phyllis.
    Beide hielten sich eng umschlungen. Und eng umschlungen waren auch ihre Hälse: Ein Tentakel schnürte sie ab und versuchte gleichzeitig, sie über das Dollbord zu ziehen – hin zu den gefräßigen Kiefern von Architeuthis.

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