Der Chirurg von Campodios
Doch es gelang dem Fangarm nicht, noch nicht, denn Ambrosius stemmte sich mit allem, was von seiner gewaltigen Körperkraft übrig geblieben war, dagegen.
Der andere Tentakel hatte sich um den Maststumpf gewickelt und zerrte daran, doch ebenso vergebens. Architeuthis schickte weitere Arme in den Kampf. Er hatte sie vom Bootsrumpf gelöst, und sie glitten nun, wie zuvor die Tentakel, über die Oberfläche der Segeltuchplane, dabei alles betastend und untersuchend, aber gottlob die Menschen darunter nicht findend.
Vitus hastete nach vorn, wobei er die gierig nach ihm züngelnden Arme zur Seite schlagen musste, hinter ihm der kleine Gelehrte, stolpernd, stürzend, doch sich immer wieder aufrappelnd. Fort, nur fort aus der Reichweite der Arme!
Um den Maststumpf ringelte sich noch immer der eine Tentakel. Architeuthis zog damit, und die gewaltige Kraft, mit der er es tat, brachte das gesamte Boot in Schieflage. Vitus verlor fast das Gleichgewicht, als er bei Ambrosius und Phyllis angelangt war, doch ohne sich zu besinnen, setzte er das Messer an und schnitt tief in den Fangarm ein. Er benutzte die Klinge wie eine Säge, auf und ab, auf und ab … Sie war rasiermesserscharf, aber der Arm war dick, sehr dick.
Plötzlich spürte er abermals etwas Eklig-Glitschiges an seinem Hals. Architeuthis’ zweiter Fangarm! Der gigantische Kopffüßer hatte ihn vom Mast gelöst, um sich damit seinem wahren Feind zuzuwenden. Vitus wich aus, während er weiter wie besessen mit dem Messer auf dem ersten Arm herumsäbelte und sich wunderte, dass kein Blut hervorspritzte. War das Monstrum überhaupt von dieser Welt?
Neben sich hörte er den Magister keuchen. Der kleine Mann stach mit einem Mastsplitter auf den zweiten Arm ein, und es gelang ihm tatsächlich, ihn auf Abstand zu halten. Vitus biss die Zähne zusammen. Schneide weiter, schneide weiter, ehe Ambrosius und Phyllis ersticken!, befahl er sich selbst. Sie müssen gerettet werden! Nach allem, was wir durchgemacht haben, wäre es blanker Hohn, wenn sie jetzt noch sterben müssten!
Unversehens war der Tentakel durchtrennt, der Stumpf fuhr in die Höhe, ringelte sich, gleichsam wie zum Abschied, ein paar Mal durch die Luft und verschwand neben Architeuthis im Meer.
Augenblicke später war der Spuk vorbei.
Um die Hälse von Ambrosius und Phyllis schlang sich noch immer das Endstück des Tentakels. »He, Ambrosius, he, Phyllis, es ist vorbei«, keuchte Vitus. Er wickelte den Arm, in dem nun keine Spannkraft mehr war, ab und warf ihn in die See.
»Ambrosius? Phyllis?«
Die beiden saßen noch immer zwischen Boden und Ruderbank, eng umschlungen wie ein Liebespaar.
»Ambrosius! Phyllis! So hört doch!« Vitus stieß sie an. Rüttelte sie. Nichts. Dann, endlich, bewegten sie sich. Gemeinsam fielen ihre Oberkörper zur Seite.
Sie waren tot.
Der glaubensstarke Augustinerpater und das zierliche Straßenmädchen hatten Seite an Seite ihr Leben ausgehaucht. Und vielleicht war es gut so für sie, denn als Lebende hätten sie nie ein Paar werden können.
So aber hatte der Tod sie vereint.
Der Plankensäger Jaime
»
Willst du etwas essen? Ich habe einen Kanten Brot und einen halbwegs genießbaren Käse.
«
A n einem frühen Morgen im Februar 1578 ging ein Mann durch die Straßen von San Cristóbal de la Habana, der größten Hafenstadt Kubas, die von ihren Einwohnern kurz Habana gerufen wurde.
Der Mann hatte ein schmales Gesicht, in dem eine kräftige Hakennase von hohen Wangenknochen eingerahmt wurde. Seine Gestalt, die nur in Hose und Hemd steckte, war hager, ja knochig zu nennen, mit Ausnahme der Schultern und der Oberarme, die einen beachtlichen Umfang aufwiesen.
Jaime Hoyelos, so hieß der Mann, lebte im Norden an der Punta Sotavento, der Mündung des Canal del Puerto, und er lenkte, wie an jedem Wochentag, seine Schritte nach Süden. Vom Kanal wehte ein frischer Wind herüber, der den Geruch nach Ferne und Meer mit sich brachte. Jaime verhielt für einen Augenblick, zog die klare Luft tief in die Lungen und genoss die Kühle auf seinen stets entzündeten Augen.
Zu dieser Stunde, da die Sonne gerade erst im Osten aus dem Meer stieg, hatte der übliche Straßenlärm noch nicht eingesetzt, gottlob nicht, denn Jaime liebte die Ruhe. Nur einige Fischweiber schickten sich schnatternd an, ihre Stände am Ufer aufzubauen. Fischweiber, so sagten die Habaneros, hielten selbst im Angesicht des Satans nicht ihr Maul.
Als Jaime das Castillo de la Real Fuerza erreicht hatte, ein
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