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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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des Windes im Rohr, die Lieder der Schwarzen, der süße Geschmack des weißen Marks, alles das lag nun schon Jahre zurück, Jahre, in denen Jaime als Plankensäger zu überleben versuchte.
    Wo Raúl, sein Partner, nur blieb? Wahrscheinlich verspätete er sich mal wieder. Jaime blickte sich um, vorbei an den klobigen Stämmen, die man schon an die Grube geschafft hatte. Es waren entlaubte und entwurzelte Mahagoni- und Courbarilbäume, Kolosse des tropischen Waldes, die darauf warteten, zerteilt zu werden.
    Die erste Arbeit bestand darin, den Stamm so zu bewegen, dass er nur zu einem Teil über den Grubenrand ragte, damit ein Anfang gemacht werden konnte. Hatten sich Jaime und Raúl ein gutes Stück vorgearbeitet, wurde der Baum auf ganzer Länge über das Loch gezogen. Das Endstück wiederum wurde so bearbeitet wie der Anfang.
    Zum Bewegen eines Baums reichten zwei Männer bei weitem nicht aus, ja, häufig waren es nicht einmal zwanzig, die das schafften. Für diese Arbeit brauchte man ein Pferde- oder Ochsengespann, aber der zuständige Mann, ein Bursche namens Mendoza, ließ sich ebenfalls noch nicht blicken.
    Jaime seufzte. Wenn er schon hier herumstand und nichts tun konnte, wollte er wenigstens in die Grube hinabsteigen und das Sägemehl herausschaufeln. Das verfluchte Sägemehl! Wenn man unten stand, sprangen einem mit jedem Sägezug winzige Holzpartikelchen in die Augen, ein teuflischer Vorgang, gegen den man so machtlos war wie gegen die Stiche der Moskitos. Die Partikelchen setzten sich an den Lidern fest und sorgten immer aufs Neue für eitrige Entzündungen. Bei Jaime war es besonders schlimm, weil er, seines Rückens wegen, gezwungen war, häufiger am Boden zu arbeiten.
    Eigentlich hätte Raúl das Herausschaufeln noch gestern Abend besorgen sollen, denn die Reihe war an ihm, aber er hatte anderes im Kopf gehabt. Raúl war zwanzig Jahre jünger als Jaime und hinter den Weiberröcken her wie der Teufel hinter der armen Seele. Keine Woche verging, in der er sich nicht frisch verliebte … Jaime schüttelte schmunzelnd den Kopf, griff sich eine hölzerne Schaufel und stieg über eine Leiter hinab in die Grube. Unten angelangt, staunte er wie immer über die Mengen an Sägemehl, die sich innerhalb eines Tages am Boden ansammelten. Das Mehl lag da wie ein dicker, weicher Schafsteppich, und Jaime stand bis zu den Knöcheln darin. In einer der vier Grubenecken hatte es sich besonders hoch getürmt, es sah aus wie eine Sanddüne, die der Wind dorthin geblasen hatte.
    Seltsam, in der Grube gab es keinen Wind.
    Jaime packte die Schaufel fester und beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen. Vorsichtig näherte er sich dem Haufen und stieß den Schaufelstiel hinein.
    Nichts geschah.
    Vielleicht hatte der Nachtwind sich doch so verwirbelt, dass er in die Grube gelangt war? Abermals stieß er mit der Schaufel zu. Und nochmals.
    Nichts.
    Nun gut, der Teufel mochte wissen, warum das Sägemehl sich in der Ecke aufgetürmt hatte. Es gab so vieles, was der Mensch nicht verstand. Warum hatten Fische keine Flügel? Warum war Eisen schwerer als Holz? Warum bauten Bienen achteckige Waben? Warum, warum, warum …
    Er begann zu schaufeln – und brach sofort wieder ab.
    Er hatte ein Geräusch gehört. Ein Geräusch aus dem Haufen. Es hatte geklungen wie ein kurzes Stöhnen. »Komm heraus, ich tu dir nichts!«, rief er und hoffte, man würde ihm selbst nichts antun.
    »Komm heraus, ich tu dir nichts!«
    Endlich kam Bewegung in den Sägemehlberg. Langsam zerteilte er sich, und heraus kroch eine schmächtige Gestalt.
    Aufatmend lege Jaime die Schaufel beiseite. Es war mittlerweile so hell geworden, dass er die Gestalt näher in Augenschein nehmen konnte. Es handelte sich wohl um ein Kind, auch wenn der Anblick Jaime an einige Bildnisse von maurischen Frauen erinnerte, denn das Wesen war vollkommen verhüllt. Nur die Augen konnte man sehen. Und die Hände. Es waren Hungerhände, das sah Jaime sofort. Sie hatten lange keine Nahrung zum Mund geführt.
    Der Plankensäger griff an seinen Gürtel, wo ein Leinensäckchen mit seinem Mundvorrat für den Tag hing. »Willst du etwas essen? Ich habe einen Kanten Brot und einen halbwegs genießbaren Käse.«
    Statt einer Antwort begann die Gestalt zu zittern.
    »Na, na, du brauchst doch keine Angst zu haben. Wenn du jetzt nichts essen willst, dann vielleicht später.« Jaime versuchte, seiner Stimme einen väterlichen Klang zu geben. »Wie heißt du denn?«
    Das Kind antwortete nicht. Es

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