Der Chirurg von Campodios
starkes Kastell, an dem die Bauarbeiten erst im vergangenen Jahr beendet worden waren, wandte er sich scharf nach rechts, stadteinwärts, obwohl er seinen Arbeitsplatz geradeaus gehend schneller erreicht hätte. Er tat das, weil sein Weg ihn so durch die Calle de los Oficios führte, jene Straße, in der er vor einundvierzig Jahren geboren worden war – als Sohn eines verkrüppelten spanischen Matrosen, der sich im Hafen mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt, und einer Indianerin vom Stamme der Timucua, einem Volk, dessen Jagdgründe im Norden der Halbinsel La Florida lagen.
Jaime war in Armut und Dreck aufgewachsen, immer auf der Jagd nach etwas Essbarem. Seine Eltern hatte er früh verloren, und vielleicht war das der Grund, warum er so an seinem Geburtshaus hing. Es lag gegenüber einem Weinlager, in dem gleichzeitig ein gutes Glas ausgeschenkt wurde.
Das Lager war fast so alt wie Habana selbst: Anno 1521 war es von seinem ersten Besitzer eröffnet worden, zwei Jahre nach Gründung der Stadt. Draußen über der Tür stand noch immer
Almacén de Vinos
, in großen, verwitterten Buchstaben, die Jaime allerdings nicht lesen konnte. Drinnen war die Luft geschwängert von den Ausdünstungen der Zecher und dem schweren, holzig-süßen Duft der Weine. Er dachte gern daran, wie er sich manches Mal einen Kanten Brot oder einen Napf Suppe verdient hatte, indem er dem Händler beim Hereinrollen der Fässer half. Fässer mit edlen Tropfen aus Andalusien, aus Navarra, aus Kastilien, aus Katalonien – Ländern, mit denen er nichts anderes als roten Wein verband, denn auf der anderen Seite des Meeres, im spanischen Mutterland, war er nie gewesen.
Inwischen hatte Jaime das Ende der Calle de los Oficios erreicht; die letzten Hütten und Häuser gaben den Blick frei auf die Werftanlagen an der Bahía de la Habana. Er stellte fest, dass an einigen Schiffen schon gearbeitet wurde. Das waren die besonders eiligen Aufträge, meistens von Handelskapitänen erteilt, für die jeder Tag, an dem sie im Hafen festsaßen, verlorenes Geld bedeutete. Einige der großen Segler lagen vertäut am Kai, andere hatte man an Land verholt, wo sie, quer zum Wasser liegend, repariert wurden.
Der Platz, an dem Jaime arbeitete, lag hinter einem Ofen, der flach und lang gebaut war, so lang, dass in ihm die längsten Schiffsplanken mittels Wasserdampf erhitzt werden konnten. Eine Prozedur, die Stunden dauerte und die nicht ungefährlich war, denn die Bretter hatten die Temperatur kochenden Wassers. Nach dem Herausnehmen transportierte man sie vorsichtig zum Schiff, wo sie an der Außenwand eingepasst und gebogen wurden – entsprechend der Krümmung des Rumpfs. Der Langofen war noch nicht in Betrieb; die Männer, die ihn bedienten, würden erst später kommen, kurz bevor das erste Brett fertig gesägt war. Jaime stieg über das Abfallholz, das zum Beheizen des Ofens verwendet wurde, und stand vor seinem Arbeitsplatz, einem viereckigen Erdloch, tiefer als ein Mann groß und acht Schritte lang. In einer solchen Grube arbeiteten jeweils zwei Säger, die aus dicken Baumstämmen Planken herausschnitten. Der eine Mann stand am Boden des Lochs, der andere oben auf dem Stamm. Zusammen bewegten sie eine zehn Fuß lange Bundsäge, die sich langsam der Länge nach durch das Holz fraß.
Es war eine Arbeit, bei der auch der Stärkste nach kurzer Zeit schlappmachte, wenn er nicht einige Dinge beherzigte. Das erste Gebot hieß: ziehen. Ziehen und niemals drücken! Wer die Säge drückte, machte sich nicht nur zusätzliche Arbeit, er sorgte auch dafür, dass der Sägevorgang aus dem Rhythmus kam – was weitere Kraftanstrengung kostete.
Das zweite Gebot hieß, richtig zu atmen, und das bedeutete: ausatmen beim Ziehen. Das dritte und wichtigste aber hieß: regelmäßig abwechseln. Jedes Arbeitsgespann wechselte mehrmals am Tage die Position, weil sich schon nach kurzer Zeit beim unteren Mann die Nackenmuskeln und beim oberen die Rückenmuskeln verkrampften.
Jaime stand lieber unten, weil er einen kaputten Rücken hatte. Die Schmerzen darin begleiteten ihn seit Jahren, genau genommen seit jenem Tag, als er sich beim Zuckerrohrschneiden zu tief gebückt hatte. Ein Schmerz wie ein Schlag war in ihn gefahren, zwei Handbreit über dem Steiß, und hatte ihn nie wieder ganz losgelassen. Seinetwegen hatte er die Arbeit in den Zuckerrohrfeldern aufgeben müssen, eine Arbeit, die genauso schwer war wie die in der Grube, aber ruhiger, viel ruhiger … Das Rauschen
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