Der Chirurg von Campodios
und kaum vernehmbar, und es kam zweifelsohne nicht von Tom, sondern von einem Hahn. Und es kam von der anderen Seite der Felsen.
Eilig stieg der Alte mit der Reuse aus dem Wasser, stellte sie ab und machte sich daran, über die Felsen zur anderen Seite zu klettern. »Was hat das zu bedeuten, Tom? Guck mal nach!«
Der Hund sauste los und sprang geschickt die großen Steine hinauf. Kurz darauf war er verschwunden. Der Alte folgte, so schnell er konnte. Von der anderen Seite drang Toms Bellen herüber. Er meldete irgendetwas. Aber was?
Der Alte beschleunigte seine Kletterbemühungen. An der höchsten Stelle angelangt, fiel sein Blick nach unten. Er erstarrte. Zu seinen Füßen lag ein Boot, oder vielmehr das, was von einem Boot übrig geblieben war. Es war ein Wrack, vom Sturm zerschlagen, durch die Flut emporgehoben und in einer abenteuerlichen Schräglage auf die Felsen gesetzt. Nur die Außenhaut schien noch einigermaßen intakt zu sein, auch wenn Teile der Bordwand so aussahen, als hätten sie mit dem Gebiss eines Hais Bekanntschaft gemacht. Mast und Ruder waren gebrochen, von der ursprünglichen Farbe war nichts mehr zu sehen. Sie war von der See bis aufs blanke Holz abgeschlagen worden.
Abermals war das Krähen zu hören. Es drang schwach zu dem Alten herauf und hatte nichts mit dem morgendlichen, kraftvollen Weckruf eines Hahns zu tun.
Der Hund fuhr fort, das Schiff anzubellen.
»Lass gut sein, Tom, alter Junge«, befahl der Alte. »Der Hahn steckt irgendwo da im Boot. Sieht wahrhaftig so aus, als wäre er mit dem Orkan angetrieben.« Dann stockte ihm erneut der Atem, denn er hatte im Heck des Wracks menschliche Arme und Beine entdeckt, die unter einer Segeltuchplane hervorragten. »Bei der Schärfe meiner Klingen, ich will verdammt sein, wenn von denen noch einer lebt!«
Doch da sollte er sich getäuscht haben.
»Du bist der Erste, der wieder klar bei Sinnen ist«, sagte der Alte. »Seit gestern kümmere ich mich um euch wie eine Glucke um ihre Küken.« Er flößte dem blonden Burschen, der vor ihm im Riedgras lag, ein paar Tropfen Wasser ein. »Als ich euch im Boot entdeckte, dachte ich zuerst, es lägen nur Leichen darin, wollte schon meinen Spaten holen, um euch wenigstens ein Grab nach guter Christenart zu schaufeln. Na, die Arbeit haben wir uns sparen können, was, Tom, alter Junge?«
Der Alte setzte den Becher mit dem Wasser ab. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und wollte die Nase in den Becher stecken. »Pfui, Tom, wo bleibt deine gute Erziehung!«
Abermals sagte der Alte: »Du bist der Erste, der wieder klar bei Sinnen ist.« Dann blickte er auf die anderen Überlebenden, die er, ebenso wie den Blonden, mühsam aus dem Boot gehoben und an einer geschützten Stelle in Strandnähe niedergelegt hatte. Ein kleiner Mann mit einer hohen Stirn war darunter, ein rothaariger Zwerg mit Buckel, ein junger Bursche, der wahrscheinlich noch keine zwanzig Jahre zählte, und eine hübsche junge Frau. Zuerst hatte er gar nicht bemerkt, dass es sich um eine Frau handelte, denn sie war so abgemagert, dass ihr Kopf sich in nichts von denen ihrer Leidensgefährten unterschied. Ihre Augen waren in gleichem Maße entzündet gewesen und ihre Lippen ebenso rissig und aufgesprungen. Nur der Umstand, dass ihr kein Bart gewachsen war – dafür aber die eine oder andere sehr schöne Rundung –, hatte ihn schließlich darauf gebracht. Er hatte sie besonders schicklich angefasst und es beim Tragen ihres Körpers vermieden, sie anzusehen, dennoch hatte es sich nicht vermeiden lassen, dass er ihrer Blöße ansichtig geworden war.
Die anderen Überlebenden waren noch nicht so weit. Sie konnten zwar schon ein paar Schlucke Wasser oder Kokosmilch zu sich nehmen und hatten das sogar während der vergangenen Nacht immer wieder getan, ansonsten aber lagen sie weiter in einer Art Erschöpfungsschlaf. Und nichts deutete darauf hin, dass sich das so bald ändern würde.
»Wo bin ich?«, fragte der Blonde. Er versuchte, sich aufzurichten.
»Bleib, wo du bist.« Der Alte drückte ihn mit sanfter Gewalt wieder ins Gras. »Nur nichts übereilen. So ist es recht. Um deine Frage zu beantworten: Du befindest dich an einem Küstenstreifen zwischen den Städten Nombre de Dios und Puerto Bello.«
»In der Karibik?«
Der Alte lachte. »An der karibischen Seite Mittelamerikas, wenn du’s genau wissen willst.«
Der Blonde musterte ihn aus grauen Augen. Es waren kluge Augen, wie der Alte feststellte, die schon wieder klar blicken
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