Der Chirurg von Campodios
schlug die Augen nieder.
Jaime sah die langen Wimpern. »Du bist ein Mädchen«, stellte er fest und trat einen Schritt vor.
Sofort wich die Gestalt zurück.
»Immer mit der Ruhe. Ich bin Jaime Hoyelos, und jeder hier auf der Werft kann bestätigen, dass ich ein harmloser Plankensäger bin. Sag, was hat dich nur in diese Grube getrieben? Hast du keine Eltern, die sich um dich sorgen?«
Ein Anflug von Wehmut durchfuhr Jaime bei der letzten Frage, denn wie gern hätte er mit Francisca, seinem Weib, ebenfalls Kinder gehabt, doch seine Frau war nun schon neunzehn Jahre mit ihm verheiratet und niemals guter Hoffnung gewesen. Und das, obwohl sie unzählige Kerzen für die Heilige Mutter in der Kirche angezündet hatte. Jetzt, mit fast vierzig, war sie zu alt zum Kinderkriegen. Der allmächtige Vater im Himmel hatte es so beschlossen, da war er sicher, aber warum nur? Andere Paare hatten Kinder wie Orgelpfeifen und wollten keine weiteren, bekamen aber dennoch Jahr für Jahr neuen Nachwuchs. Warum? Es gab so viele Warums im Leben …
Jaime bekreuzigte sich und fragte: »Wie alt bist du denn?«
Wieder begann die Gestalt zu zittern.
»Du willst nicht reden? Auch gut.« Der Plankensäger beschloss, die Kleine fürs Erste in Ruhe zu lassen. Kommt Zeit, kommt Rat, dachte er und tat, als gäbe es das Mädchen nicht. Er griff erneut zur Schaufel und begann zu schippen. Er arbeitete langsam, wobei er versuchte, die Gestalt hinter ihm aus seinen Gedanken zu verbannen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Fast körperlich spürte er den Blick des Mädchens auf seinem Rücken. Als die Hälfte der Arbeit getan war, ertönte oben plötzlich ein fröhliches, schnell näher kommendes Pfeifen. Raúl!
Jaime erschrak, an seinen Partner hatte er überhaupt nicht mehr gedacht. Dafür umso mehr an das Mädchen. Wie alt es wohl war? Schwer zu schätzen. Der schlanken Figur nach höchstens zwölf oder dreizehn. Eine Idee war ihm gekommen, vielleicht sogar eine gute, aber er hatte sie noch nicht zu Ende gedacht. Das musste jetzt warten. Er fragte sich, ob es richtig wäre, wenn Raúl die Kleine zu sehen bekäme, und gab sich sofort selbst die Antwort. Nein, auf keinen Fall. Raúl war zwar kein schlechter Kerl, aber laut, unflätig und wenig einfühlsam. Nicht auszudenken, wie das Mädchen, das bei den harmlosesten Fragen wie ein Lämmerschwanz zitterte, auf dessen Art reagieren würde.
Rasch bedeutete er ihr, sich wieder in die Ecke zu hocken, und schaufelte es mit den Spänen vollständig zu. Keinen Augenblick zu früh, denn schon erschien oben am Grubenrand Raúls Kopf.
»He, Jaime, hab mich’n bisschen verspätet, du bist doch nicht böse? Musste mich erst noch von letzter Nacht erholen. War mit meiner neuen Flamme am Strand, du, ich sage dir, das war’n Gefühl, über mir nur die Sterne und unter mir das Paradies. Vögeln kann die, ich sage dir …«
»Halt’s Maul.« Jaime war es peinlich, dass so vor dem Mädchen gesprochen wurde.
Raúl spielte den Zerknirschten. »Oh, der Herr Plankensäger ist schlechter Laune? Hör mal, Jaime, ich weiß, dass es nicht in Ordnung ist, wenn ich zu spät komme, es soll das letzte Mal gewesen sein. Ich weiß auch, dass eigentlich ich mit Schippen dran bin, aber wenn du gesehen hättest, wie prachtvoll meine Neue vögeln kann, dann …«
»Das Maul sollst du halten.«
»Puh.« Eine Weile sagte Raúl tatsächlich nichts. »Dir hat’s aber mächtig die Laune verhagelt«, meinte er dann. »Kenne dich gar nicht so. Komm, ich löse dich ab.«
»Bleib, wo du bist!«
Raúl, der schon den Fuß auf der obersten Leitersprosse hatte, hielt inne. »Was ist nur in dich gefahren?«
»Nichts, Francisca geht es nicht gut.« Das war nur bedingt eine Notlüge, denn Jaimes Frau kränkelte öfter.
»Da also liegt der Hase im Pfeffer! Du, das tut mir Leid, aber das wird schon wieder. War ja bisher immer so.«
»Ja, danke. Geh jetzt, hole Mendoza und sein Gespann. Wir fangen mit dem dicken Mahagonistamm an.«
Das gleichmäßige Geräusch der auf- und nieder fahrenden Sägezähne hatte etwas Beruhigendes in dem dröhnenden Werftlärm, der von allen Seiten herüberhallte. Zug um Zug fraß sich das stählerne Blatt durch den Stamm. Die Arbeit ging gut voran. Jaime stand unten in der Grube und war über und über mit rotbraunen Spänen bedeckt. Seine Augen brannten bereits stark, und bei jedem Wimpernschlag hatte er das Gefühl, er hätte Sand darin. Doch er kannte das, und er lebte damit. Das Herausreiben
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