Der Chirurg von Campodios
Süden, am Meer entlang, denn es war unsere einzige Orientierungshilfe.
Wir aßen Muscheln, Fische und Kokosnüsse, die ich mit dem Messer öffnete. Mein Ziel war Habana, die Stadt auf Kuba, wo meine Schwester und ich angekommen waren aus dem Land unserer Väter. Von dort wollten wir zurück. Es schien uns die einzige Möglichkeit, nach Hause, nach Afrika zu kommen.
Arlette warnte uns. Sie sagte, die Weißen würden uns erneut fangen und versklaven, aber dieses Risiko mussten wir in Kauf nehmen.
Obwohl ich alles tat, um uns bei Kräften zu halten, ging es uns zunehmend schlechter. Die Moskitos zerstachen uns erbarmungslos, unsere Gesichter waren bald so geschwollen wie reife Kürbisse. An einem Tag in der zweiten oder dritten Woche begann meine Schwester zu fiebern. Bei Anbruch der Dunkelheit war sie so schwach, dass sie keinen Schritt mehr weitergehen konnte. Wir betteten sie auf ein Lager aus Laub. Arlette kümmerte sich um sie, aber was konnte sie schon tun, außer ihr die Stirn zu kühlen und ihr Wasser einzuflößen! Ich will es kurz machen …«
Die Erinnerung schien Okumba zu übermannen. Er fuhr sich über die Augen, zog vernehmlich die Nase hoch und setzte dann entschlossen fort: »Sie starb nach zwei Tagen, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Sie wurde nur siebzehn Jahre alt. Ihr Name war Nkele.«
Vitus sagte nichts. Auch seine Freunde schwiegen. Angesichts des Leids, das Okumba erlebt hatte, war jedes bedauernde Wort zu viel.
»Wir konnten Nkele nicht einmal begraben. Nur ein paar Steine häufte ich über ihrem Körper an, zum Schutz vor wilden Tieren. Arlette und ich zogen weiter. Ich bewunderte sie wegen ihrer Zähigkeit und Ausdauer und auch, weil sie ihr großes Ziel nie aus den Augen verlor: So wie ich nach Afrika, so wollte sie nach England zurück.
Wochen vergingen. Ab und zu trafen wir auf Menschen. Wenn es weiße Siedler waren, erzählte Arlette, ich sei ihr Sklave, wir wären von Piraten überfallen worden und schiffbrüchig. Wenn es Indianer waren, bedeuteten wir ihnen, wir wären von Spaniern überfallen worden. Das erwies sich als sehr geschickt, denn jeder Stamm in der Neuen Welt hat von den Dons gehört, und bei keinem sind sie beliebt. Man half uns, wo wir auch hinkamen …
Nun, erspart mir die Einzelheiten dieser langen, mühevollen Reise, an deren Ende durch Arlettes Geschick eine Überfahrt nach Kuba möglich wurde. Tatsache ist, dass wir im August letzten Jahres im Hafen von Habana einliefen und an Land gingen. Doch kaum hatten wir festen Boden unter den Füßen, bekamen wir Schwierigkeiten mit den Behörden. Unsere Gesichter waren noch immer von Stichen, Kratzern und Schwären entstellt und unsere Kleidung in erbärmlichem Zustand. Man lachte Arlette aus, als sie den Beamten des spanischen Gouverneurs versicherte, sie sei eine englische Lady, und noch weniger glaubte man ihr, als sie behauptete, ich sei ihr Sklave. Ein Wort gab das andere. Ich konnte nicht alles verstehen, aber Arlette wurde sehr hitzig. Wahrscheinlich hat sie die Männer beleidigt, denn plötzlich wurden Wachen herbeigerufen, die sie festnahmen und fortzerrten. Auch mich wollte man packen, aber die Angst, erneut ins Sklavenjoch gepresst zu werden, verlieh mir übermenschliche Kräfte. Ich konnte die Häscher abschütteln und aus der Stadt fliehen.
Mein Weg führte mich zum Meer. Tagelang vermied ich jeden Kontakt zu den Inselbewohnern, bis ich mich endlich jemandem anvertraute. Es war Flan O’Tuft, und es war mein Glück, dass ich ausgerechnet ihn kennen lernte. Er ist ein irischer Schiffer, der mit einer Pinasse die karibischen Gewässer befährt. Offiziell transportiert er Fracht für die Spanier zwischen Cartagena, Nombre de Dios und Habana. Unter der Hand fährt er auch für uns, die Cimarrones, denn er hasst die Spanier, verabscheut ihre Gier nach Gold und die Skrupellosigkeit, mit der sie uns Schwarzen die Freiheit rauben.«
Der kleine Gelehrte nickte. »Freiheit ist das höchste Gut, das einem Menschen beschieden sein kann.
In dubio pro libertate
, wie es so schön heißt. Im Zweifel für die Freiheit. Die Beweislast, dass du, Okumba, ein Sklave bist, hat natürlich bei den Spaniern gelegen. Solange sie dir das nicht schlüssig nachweisen konnten, durften sie dich auch nicht festnehmen.«
Okumba antwortete: »Du bist ein weiser Mann, Magister, und eine Ausnahme unter den Spaniern. Ich fürchte nur, dass es zu wenige von dir auf dieser Welt gibt.«
»Womit du wahrscheinlich Recht
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