Der Chirurg von Campodios
mich ist: Hast du auf dieser Insel eine junge Frau namens Arlette gesehen?«
»Arlette?«, wunderte sich der Riese. »Ja, natürlich. Arlette war eine Weiße. Sie war mit dem Schwein Thomas verwandt. Aber im Gegensatz zu ihm war sie ein feiner Mensch, ja, das war sie.« Okumba rollte mit den Augen, denn ihm kam ein ungeheurer Gedanke. »Kennst du sie etwa? Du kennst sie, hab ich Recht?«
Vitus antwortete mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam. »Ja, ich kenne sie … und ich liebe sie. Weißt du, was aus ihr geworden ist? Du musst es mir sagen! Wo kann ich sie finden? Ist sie noch auf Roanoke?« Er sprach immer schneller, immer hektischer. »Ich muss sie finden! Ich muss! Nur ihretwegen haben meine Freunde und ich die ganzen Strapazen der letzten Monate ertragen. Wo ist sie? Wo ist sie?«
Angesichts des leidenschaftlichen Ausbruchs war Okumba zurückgefahren. Nun hob er beruhigend die Hand. »Ich weiß nicht, wo sie ist, ich schwöre es, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, was ich mit ihr erlebte.«
Der Magister, praktisch wie immer, schob ein: »Ich schlage vor, Vitus, Okumba erzählt der Reihe nach. Auf die paar Augenblicke kommt es nun auch nicht mehr an.«
»Einverstanden.« Mühsam hielt Vitus sich zurück.
»Nun gut«, Okumba sammelte sich. »Es fällt mir nicht leicht, über die Ereignisse zu sprechen. Alles ist noch so frisch in meinem Gedächtnis, als wäre es gestern gewesen. Ich sagte schon, dass Thomas Collincourt, das Schwein, meine Schwester vergewaltigte. Ich erwischte ihn, wie er keuchend auf ihr lag, seinen widerlichen weißen Schwanz in sie stoßend. Ich hatte mir ein Messer aus der Küche besorgt. Es war groß und scharf. Ich stieß es ihm in den Rücken. In diesem Augenblick kam eine rothaarige Frau zur Tür herein. Es war Arlette, aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht. Sie hielt eine Pistole in der Hand, eine Waffe, von der ich wusste, dass sie wie eine Muskete funktionierte. Ich erschrak zu Tode, und sie sagte irgendetwas, das ich nicht verstand. Aber ich war sicher, dass sie mich töten würde.«
»In welchem Monat war das?«, fragte Vitus, der atemlos gelauscht hatte.
»In dem Monat, den ihr ›Juni‹ nennt. Es war im letzten Jahr.«
Vitus nickte. Arlette musste zu jenem Zeitpunkt schon mehrere Monate auf der Insel verbracht haben, zusammen mit Thomas Collincourt, ihrem Onkel. Er beschloss, Okumba nichts von dem verwandtschaftlichen Grad zu sagen, der ihn mit Thomas verband, zumal er den Mann nie gekannt hatte und sein Tod ihm keineswegs nahe ging. »Was geschah weiter?«
»Sie tötete mich nicht, sondern bedeutete mir, Thomas’ toten Körper von meiner Schwester herunterzunehmen, was ich auch tat. Im selben Augenblick drangen die Indianer durch die Tür ein.«
»Indianer? Was für Indianer?«
»Es waren Algonkins, wie ich später erfuhr. Sie wollten die Insel zurückerobern, die seit altersher zu ihrem Jagdgebiet gehört. Schreiend brachen sie in Collincourts Haus ein und stürzten sich auf uns. Sie hatten Kriegskeulen, Speere und Bogen – alles Waffen, die ich kannte und vor denen ich mich nicht fürchtete. Ein Nahkampf entspann sich, und ich hatte das Glück, zwei, drei von ihnen mit dem Küchenmesser unschädlich machen zu können. Die anderen entdeckten Thomas, das Schwein, und schlugen ihre Kriegskeulen in seinen Körper, obwohl er schon tot war. Sie müssen ihn bis aufs Blut gehasst haben. In dem allgemeinen Tumult gelang es mir, mit den Frauen zu entkommen. Wir liefen über den Hof in das nächstgelegene Waldstück, wo wir uns versteckten. Die Algonkins waren wie von Sinnen. Immer wieder beobachteten wir, wie sie wehrlose Sklaven erschlugen, aber ich konnte meinen schwarzen Brüdern nicht helfen, wollte ich nicht mein Leben und das der Frauen aufs Spiel setzen.
Wir warteten, bis die Dunkelheit hereingebrochen war. Noch immer zogen Indianer über die Insel, auf der Suche nach weiteren Opfern. Mir wurde klar, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis sie uns aufspürten. Als die Nacht am dunkelsten war, erhoben wir uns deshalb und schlichen an die Küste. Wir hatten uns mit Händen und Füßen verständigt und waren uns einig, dass wir die Insel verlassen wollten. Am Ufer entdeckten wir ein unbewachtes Kanu. Es trug uns über den Croatan Sound aufs Festland. Die Weißen nennen das Küstenland Roanoke Marsh, es ist schweres, sumpfiges Gelände, in dem jedes Gehen zur Qual wird. Wir liefen Tage und Nächte durch menschenleeres Gebiet, immer nach
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