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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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wir glücklich sind oder verzweifelt. Ob wir Feinden begegnen oder Freunden. Ich hätte mir niemals träumen lassen, dass ich einem Mann wie dir, Okumba, eines Tages gegenübersäße. Normalerweise würde ich jetzt auf Greenvale Castle im guten alten England sein.«
    »Und ich in meinem Dorf am schönen Fluss Pra«, seufzte der Riese. »Unsere Geister, oder vielleicht auch euer Christengott, wollten es, dass Mbaka stirbt. Genauso, wie sie wollten, dass meine Schwester und ich von den Sklavenjägern gefangen wurden.«
    Okumba griff nach einem Wasserkrug und trank in langen Zügen. »Du, Magister, hast mich gefragt, was aus meiner Schwester geworden ist, und ich wollte dir nicht antworten. Jetzt will ich dir erzählen, was sich zugetragen hat: Die Sklavenjäger schafften uns zur Küste, wo wir auf ein Schiff verladen wurden. Außer uns waren schon über hundert Menschen an Bord. Männer, Frauen und Kinder. Man hatte auf dem Oberdeck Verschläge gebaut, in die man uns Männer hineinpferchte. Frauen und Kinder durften sich frei bewegen, allerdings nur unter strenger Bewachung. Wer von uns gedacht hatte, die Reise würde bald beginnen, sah sich getäuscht. Es vergingen noch Wochen, bis die erforderliche Sklavenzahl erreicht war, die eine Überfahrt lohnend machte. Und während der ganzen Zeit, die wir in diesem elenden, menschenunwürdigen Zustand verbrachten, baute der Zimmermann Zwischendecks ein. Wisst ihr, wie hoch so ein Zwischendeck ist?«
    Okumba nahm einen weiteren Schluck Wasser. »Ihr könnt es nicht wissen. Es sind ganze vier Fuß, das heißt, bis auf die Kinder konnte niemand in diesen Decks aufrecht gehen. Aber wir brauchten es auch nicht, denn wir wurden liegend angekettet. Schulter an Schulter, Kopf an Kopf, wie die Sardinen in der Kiste. Zuletzt waren wir dreihundert Menschen, und der Gestank, der von dem Schiff ausging, war so bestialisch, dass manche daran erstickten. Andere wollten sich selbst ersticken. Es waren diejenigen, die zum Schiff gerudert wurden und dabei ins Wasser springen konnten. Sie tauchten einfach unter und blieben so lange unten, bis der Tod sie erlöste. Sie wollten lieber sterben als in Gefangenschaft gehen.«
    »Es ist furchtbar, wozu Menschen fähig sind«, murmelte kopfschüttelnd der kleine Gelehrte. »Es muss der Bocksbeinige persönlich sein, der sich ihrer bemächtigt, anders ist es nicht zu erklären. Ich brauche noch einen Schluck Wein.«
    »Die Überfahrt des Sklavenfahrers in die Neue Welt dauerte zwei Monate. In dieser Zeit starben mehr als ein Drittel von uns unter den entsetzlichsten Umständen. Mehrmals wollten wir ausbrechen, aber jedes Mal wurde der Aufstand brutal niedergeschlagen. Am schlimmsten war es, wenn Matrosen nachts heimlich unter Deck kamen, um unsere Frauen zu schänden. Es war streng verboten, aber sie taten es trotzdem. Einmal versuchte es einer bei meiner Schwester. Ich erdrosselte ihn mit meiner Kette und warf seinen Körper vor den Niedergang. Sie fanden nie heraus, wer ihn getötet hatte.
    Endlich landeten wir in Habana, das ist eine Stadt auf Kuba, wo wir von einem Sklavenhändler namens Sanceur aufgekauft wurden. Er behandelte uns recht gut, ließ Essen in uns hineinstopfen, damit wir wieder zu Kräften kamen. Dann kam der Tag, als meine Schwester und ich von einem vierschrötigen Mann gekauft wurden. Er war ein Tabakpflanzer. Vom ersten Augenblick an hatte er Blicke auf meine Schwester geworfen, und mir war klar, dass er sie nicht als Arbeitskraft wollte. Ich sollte Recht behalten.
    Die Insel, auf der er seine Tabakfarm hatte, war ein schönes Eiland, doch der Empfang, den man uns bereitete, war alles andere als schön. Sowie wir an Land waren, brannte man uns die Initialen unseres neuen ›Herrn‹ in die Haut, hier …« Okumba beugte sich vor und deutete auf seine linke Schulter. » TC  – für Thomas Collincourt, so hieß das Schwein. Er vergewaltigte meine Schwester noch am selben Tag. Ich habe ihn dafür getötet, ich …«
    »Halt!« Vitus war aufgesprungen. Er schrie fast: »Wie hieß der Mann? Sag, wie hieß der Mann?«
    »Thomas Collincourt. Warum?«
    »Und die Insel?«
    »Roanoke Island. Warum regst du dich so auf?«
    »Roanoke Island!« Ein Zittern durchlief Vitus’ Körper, als er sich zurücksinken ließ. »Du warst auf Roanoke Island! Ich … ich …« Er hatte Angst, die alles entscheidende Frage zu stellen. Doch es musste sein, und er zwang sich dazu. »Okumba, ich frage dich jetzt etwas, das von großer Wichtigkeit für

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