Der Chirurg von Campodios
Sonnenaufgänge der Welt. »Aber wir können es sofort nachholen.«
Er eilte zu ihr und riss sie in die Arme. »Ich liebe dich so sehr, oh, wie ich dich liebe, Arlette, du mein Leben!« Er spürte, wie ihm die Tränen kamen, doch er scherte sich nicht darum. »Arlette, oh, Arlette, wenn du wüsstest, was alles geschehen ist seit … seit unserer Nacht auf der
Phoenix
.«
»Du wolltest mich doch küssen«, flüsterte sie und zog ihn zu sich aufs Lager. »Jetzt küsse ich dich.« Ihre Lippen waren warm und weich, und er merkte, wie die Erregung erneut in ihm wuchs.
»Erzähle mir, wie es dir ergangen ist«, wisperte sie an seinem Ohr. »Erzähle mir alles, was nach unserer Nacht auf der
Phoenix
geschehen ist.«
»Es gibt so vieles zu berichten. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«
»Warst du mir untreu?«, fragte sie schelmisch und zeigte auf den kleinen Anhänger, den Vitus einst von Drake erhalten hatte.
Statt einer Antwort betätigte er den Aufklappmechanismus und wies auf das medaillonförmige Bild, das die Mutter Gottes zeigte. »Mit dieser Dame? Lies nur, was unter der Miniatur steht.«
»Madre dolorosa«
, entzifferte sie.
»Richtig, die Schmerzensreiche Mutter. Du wirst es nicht glauben: Ich bekam die Miniatur von Francis Drake höchstpersönlich geschenkt.« Er erzählte, wie es dazu gekommen war. Dann fuhr er lächelnd fort: »Aber es gab noch eine andere Frau in der Zwischenzeit. Sie war eine Magd und hieß Louise. Sie war wunderschön.«
Arlette lachte leise auf und wurde dann übergangslos ernst. Ein Schatten fiel über ihre Augen, als sie sagte: »Es war eine furchtbare Zeit für mich im Escargot. Furchtbar und wundervoll zugleich. Die ganze Zeit warst du da, und ich konnte mich dir nicht zu erkennen geben. Ich wollte nicht, dass du mich so entstellt sahst.«
»Du hattest also eine Krankheit? Eine Hautkrankheit im Gesicht?«
»Ja.« Sie schauderte bei dem Gedanken an ihr tückisches Leiden. »Ich war von der Gürtelrose geschlagen. Und ich konnte mich dir nicht zeigen, denn ich wünschte, dass du Arlette so in Erinnerung behältst, wie du sie auf der
Phoenix
kennen gelernt hattest. Und trotzdem: Ich wollte dich, ich sehnte mich nach dir, wie ich mich noch nie zuvor nach einem Menschen gesehnt hatte. Die Sehnsucht schmerzte viel mehr als die Rose, denn du warst unerreichbar. Da kam ich auf den Gedanken, dich mit in meine Kammer zu nehmen. Es war die einzige Möglichkeit, dir nahe zu sein. Als Unbekannte, als eine Frau ohne Gesicht. Und es war schön, wunderschön, ich musste ständig weinen, vor Verzweiflung und vor Glück.«
»Du meine Liebste!« Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie zärtlich auf den Mund. »Und bei alledem hast du niemals gesprochen. Nicht ein einziges Wort! Dass du dich mir nicht zu erkennen geben wolltest, kann ich in gewisser Weise verstehen, aber du sprachst ja überhaupt nicht, warum nur?«
»Es war eine Folge meiner Kerkerhaft. Du musst wissen, dass die Spanier mich nach meiner Ankunft in Habana einsperrten. Und das nur, weil ich mich mit einem dieser subalternen Beamten gestritten hatte! Es war grauenvoll! Auch Okumba hat mir nicht helfen können. Ach, du kannst ja nicht wissen, wer Okumba ist. Er ist der prachtvollste Bursche, der mir je begegnete. Außer dir natürlich, und …«
»Ich weiß, ich kenne ihn«, schob er ein. »Von ihm weiß ich auch, dass du im Kerker warst.« Er küsste sie abermals.
»Aber wieso?«
»Das erzähle ich dir später.«
»Gut.« Sie schmiegte sich an ihn. »Weißt du, ich bekam die Rose im Kerker, und sie war zäh und hartnäckig und ließ mich nicht los. Und auch, als man mich endlich wieder freilassen musste, hatte ich sie noch. In den ersten Tagen schämte ich mich meines Gesichts so sehr, dass mir kein Wort über die Lippen kommen wollte. Ich ging nur noch gebeugt und tief verhüllt. Später merkte ich dann, dass Stummheit auch ein gewisser Schutz sein kann. Und sogar von Vorteil. Ich glaube, dass meine Stummheit auch ein Grund dafür war, dass Achille mich als Magd nahm. So konnte ich niemandem gegenüber ausplaudern, dass er zwei Leben führte: eines als Patron und eines als Wahrsagerin.«
»Das ist jetzt alles vorbei.« Er begann sie zu streicheln, sanft und voller Liebe, und ihr Körper drängte sich ihm entgegen wie damals im Escargot.
Nach einer Weile entspannte sie sich, wurde ruhiger und begann nun ihrerseits, ihn zu liebkosen. »Und jetzt erzähle mir, was du erlebt hast.«
»Das will ich tun.
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