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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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gelungen, ihre Freundin wieder wachzurütteln.
    Noch immer nicht ganz die Alte, saß Phoebe jetzt breitbeinig auf dem Boden und sagte: »Bei den Knochen meiner Mutter, ich glaub, der Kahn geht unter. Merkste nich, Phyllis, wie wir nach vorn wechsacken?«
    Phyllis antwortete nicht.
    »Mensch, Phyllis, ’s wird immer mehr, pass auf, dassde nich abrutscht.« Phoebe griff zur Armlehne einer fest eingebauten Holzbank und zog sich daran hoch. Die Kabine wirkte gespenstisch in ihrer neuen Perspektive. Die Schräglage der
Gallant
war unterdessen so stark geworden, dass man fast auf der zum Oberdeck weisenden Kabinenwand stehen konnte. Die Tür, nach innen aufgehend, lag flach wie ein Teppich darauf.
    »Bloß raus hier.« Phoebe musste daran denken, wie man in Plymouth mit jungen, unerwünschten Kätzchen umging: Man steckte sie in einen Sack, band ihn zu und ertränkte die Tiere darin. Ganz ähnlich kam sie sich jetzt vor.
    Immer darauf achtend, nicht abzurutschen, kletterte sie mit Phyllis zur Tür hinaus, schräg nach unten, hielt sich dabei im Türrahmen fest und packte gleichzeitig die Freiwange der zum Kommandantendeck hinaufführenden Treppe. Dann zog sie Phyllis und sich Stufe für Stufe empor. Auf dem obersten Deck angelangt, sah sie, dass hier ein nicht minder großes Chaos herrschte: Das abgebrochene Ende des Besanmasts ragte über ihnen empor, das Lateinersegel hing schlaff nach Steuerbord über die Reling, und sämtliches stehende Gut hatte sich über Deck verteilt.
    »’s sieht aus wie’n Spinnennetz«, stellte sie nüchtern fest. »Da können wir uns dran festhalten, komm, Phyllis, noch’n bisschen, bis rauf zur Hecklaterne un zur Fahne, dann is Schluss, höher geht’s nich, un wenn wir absaufen, dann ganz zuletzt.«
    Als sie oben waren, beugten sie sich, links und rechts vom Flaggenstock stehend, über das Heckschanzkleid, weil sie sich auf diese Art leichter auf den Beinen halten konnten. Beide waren so außer Atem, dass selbst Phoebes Mundwerk für kurze Zeit aussetzte.
    Doch dann begann sie unversehens wieder: »Was haste gesacht, Phyllis, he Phyllis, du hast doch eben was gesacht, oder haste nich?«
    Phyllis schüttelte den Kopf.
    »Komisch, könnt schwörn, dass da eben einer was gesacht hat, aber wo?« Sie beugte den Kopf noch weiter nach vorn und rief: »Isda wer, hallo, isda wer?«
    Und zu ihrer grenzenlosen Überraschung antwortete ihr niemand anderes als der Magister. »Ja, Verehrteste, wir sind’s. Der Steuermann Ó Moghráin und meine Wenigkeit. Wir befinden uns unter Euch – oder besser gesagt: vor Euch – auf der heckwärtigen Galerie. Wenn das Dach des Gangs nicht zwischen uns wäre, könnten wir uns sogar sehen. Immerhin schön, Eure Stimme zu hören.«
    »Ich glaub, mich laust der Affe.«
     
    Der Decksmann Ambrosius war nur mit knapper Not dem Tod entronnen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Männern der
Gallant
hatte er sich im Moment des Überfalls nicht an Oberdeck aufgehalten, sondern im Batteriedeck, wo er, zusammen mit drei anderen Matrosen der Freiwache, dem Zimmermann Joshua Bride half, den ausgebauten Verschlussdeckel einer Geschützpforte zu reparieren. Um sich herum hatten die Männer schwere Bretter liegen, dazu die neuen, bereits eingefetteten Scharniere. Die Arbeit war, trotz der Proteste des Geizhalses Stout, der um sein teures Reserveholz fürchtete, unumgänglich geworden, denn der Verschluss war löchrig wie ein Käse und stellte bei schwerem Wetter eine echte Gefahr dar. Joshua Bride hatte jedem der Männer Material in die Hand gegeben, dazu das entsprechende Werkzeug. Ambrosius war die Aufgabe zugefallen, Löcher für die neuen Scharniere vorzubereiten, weshalb er mit einem zwei Fuß langen, eisernen Stangenbohrer hantierte. Die anderen Matrosen waren mit Handsägen, Stemmeisen, Breitbeilen und mehreren Zugmessern ausgerüstet.
    Als ihnen jählings ein ganzer Haufen Degen und Entermesser schwingende Piraten entgegenstürzte, hatte Ambrosius zunächst seinen Augen nicht getraut. Doch es war grausame Wirklichkeit gewesen. Er hatte mit ansehen müssen, wie einer seiner Kameraden kurzerhand abgestochen wurde, eine willkürliche, mörderische Tat, die sogleich dazu führte, dass in ihm eine Welle der Wut hochschlug.
    »Oh, Herr, vergib ihnen,
    denn sie wissen nicht, was sie tun,
    und vergib auch mir,
    denn ich weiß es ebenso wenig!
    Amen«,
    hatte er mit Stentorstimme gebrüllt und dem ersten Angreifer den Griff seines Stangenbohrers durchs Gesicht gezogen. Dem

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