Der Chirurg von Campodios
meistern.« Der Steuermann wandte sich nach hinten und sprach gegen das Dach der Galerie, hinter dem er die Mädchen wusste: »Miss Phoebe, bitte besorgt mir etwas von dem herabgekommenen stehenden Gut.«
»Stehendes Gut?«, erscholl es zurück. »Nee, was habt ihr Jungs vonner Seefahrt immer für unanständige Ausdrücke!« Phoebe kicherte. Jetzt, wo so viele tüchtige Männer überlebt hatten, fühlte sie sich bedeutend sicherer.
»Nun, äh … ja. Ich meine nichts weiter als eine Leine; sie sollte ungefähr eine viertel Kabellänge aufweisen. Bitte schaut Euch doch einmal auf dem Deck hinter Euch um.«
»Kabellänge, was is ’n das nu wieder, ’ne Kabellänge?«
Ó Moghráin seufzte. »Verzeiht, das könnt Ihr ja nicht wissen. Schaut Euch einfach nach einem möglichst langen Seil um. Wenn es hundert Fuß misst, mag es schon gehen.«
Es dauerte geraume Zeit, bis Phoebe eine Leine unter dem Takelgewirr herausgezerrt und das Ende über das Galeriedach geworfen hatte, von wo Ó Moghráin und der Magister es weiter nach unten leiteten. Sie tat alles sehr eifrig und umsichtig, und ihr flottes Mundwerk brachte dabei die Männer, trotz des Ernstes der Situation, ein ums andere Mal zum Schmunzeln.
Wenig später war Bride unterwegs. Die See zeigte sich gottlob noch immer von ihrer ruhigen Seite, wenn auch das Wasser die Körper der Schiffbrüchigen schon sehr ausgekühlt hatte. Es wurde Zeit, dass etwas geschah. Beim Boot angelangt, schlang Bride die Leine um die unter Wasser befindliche Spitze des Vorstevens und sicherte sie mit einem Palstek. Er hob den Arm, um anzuzeigen, dass so weit alles vorbereitet sei, und auf ein Kommando von Ó Moghráin wurde das große Beiboot samt Bride und dem noch immer auf dem Kiel sitzenden Jack von den Männern zum Wrack gezogen.
Damit war die erste Schwierigkeit gemeistert. Doch die zweite stellte eine weit größere Herausforderung dar. Wie sollten sie das schwere Boot umdrehen?
Zunächst befahl Ó Moghráin den Männern, auf den Rumpf des Boots zu klettern, denn manche von ihnen schnatterten schon vor Kälte wie die Gänse. Als sie sich leidlich erholt hatten, rief Vitus zu Ó Moghráin hinauf: »Wir müssen uns beeilen, Herr Steuermann, eben habe ich erneut ein Klopfzeichen gehört. Wer weiß, wie lange der Mann da drinnen noch durchhalten kann.«
»Gewiss, Cirurgicus, gewiss. Wir werden das Ganze mit Hilfe von mehreren Taljen lösen.«
Doch Ó Moghráin hatte bei seiner Antwort zuversichtlicher geklungen, als er in Wirklichkeit war. Sicher ließ sich das Boot mit Hilfe von Flaschenzügen umdrehen, die Frage war nur, wo am Wrack die Blöcke zu befestigen waren. Und mehr noch: Würde die
Gallant
durch die zusätzliche Belastung nicht vollends sinken?
Die letzte Frage allerdings war müßig. Wenn das Wrack sank, waren auch die Schiffbrüchigen dem Untergang geweiht. Ó Moghráin verscheuchte die unnützen Gedanken und ließ nach Blöcken und Seilen Ausschau halten, aus denen Flaschenzüge herzustellen waren. Als er glaubte, genügend Material zusammenzuhaben – Phoebe auf dem Kommandantendeck hatte sich abermals wortreich an der Suche beteiligt, indem sie unter anderem fragte: »’n Jungfernblock? Wassis das denn nu wieder? Huiii, da wird man als Dame ja rot wie ’n Taubenbein! ›Jungfernblock‹, ›stehendes Gut‹, ›Kabellänge‹. Tz, tz, ihr Jungs habt vielleicht ’ne Phantasie …« –, als Ó Moghráin also glaubte, genügend Material zusammenzuhaben, ließ er nach reiflicher Überlegung den Block des ersten Flaschenzugs wiederum am untersten Scharnier des Ruderblattes anschlagen. Wenn alles gut ging, würde damit der Bug des Boots anzuhieven sein. Das nächste Problem wäre dann das Kippen, ein Vorgang, der ebenfalls viel Zugkraft erforderte. Hier beabsichtigte er mit einer Apparatur zu arbeiten, die sich »Talje auf Talje« nannte, und dem Mann, der an der Leine zog, die sechzehnfache Kraft verlieh.
Beide Flaschenzugkonstruktionen mussten gleichzeitig und mit sehr viel Fingerspitzengefühl betätigt werden, sollte das Vorhaben gelingen. Ó Moghráin hoffte inbrünstig, dass alles gut ging.
Doch als sich tatsächlich wenig später der Vorsteven aus dem Wasser hob, wobei es in den Verbänden des Wracks so abenteuerlich knirschte, dass einem Angst und Bange werden konnte, geschah zunächst etwas Erstaunliches: Eine Hand, so klein wie die eines Kindes, schob sich durch den Luftspalt zwischen Bootsrand und Wasserlinie und winkte in alle Richtungen. Ihr
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