Der Chirurg von Campodios

hochgerissen. Er hob seinen Degen, um ihm den Todesstoß zu versetzen. Phoebe stockte unwillkürlich der Atem. Jetzt …
    Nein. Er hielt inne.
    Ein Lichtreflex war ihm ins Auge gesprungen. Ein kurzer, gleißender Strahl, der von einer Miniatur gekommen zu sein schien, die der Liegende um den Hals trug. Wer immer sie ihm geschenkt haben mochte, er hatte ihm damit das Leben gerettet. Wer war der Liegende eigentlich? Das war doch … Tatsächlich, der Cirurgicus!
    Tausend Gedanken schossen Phoebe angesichts dieser Erkenntnis durch den Kopf, aber der wichtigste von allen war, dass es mit dem Töten ein Ende haben musste. Hier war schon genug Blut geflossen. Mehr als genug. Ihre alte Resolutheit kehrte zurück, und ohne auf ihre eigene Sicherheit zu achten, schrie sie den Schwerbewaffneten von der Seite an: »He, Totschläger, haste noch immer nich genug Leute abgemurkst? Leben leider noch’n paar, wie? Kannst den Hals nich voll kriegen, was?«
    Verblüfft drehte der Pirat sich ihr zu. Er war alles in allem eine auffällige Erscheinung, aber das, was Phoebe am meisten ins Auge sprang, war sein starker Unterkiefer. Er musterte sie. Sie spürte, wie er sie abschätzte und wie seine Augen ihre Brüste abtasteten. Dann setzte er ein maliziöses Lächeln auf.
    »Für eine Hure nimmst du das Maul ganz schön voll«, sagte Jawy.
    »Ich bin keine Hure nich! Ich un Phyllis sin auf der Reise inne Neue Welt, wir sin Damen, un ich besteh drauf, dass wir unsre Sachen wiederkriegen, aber’n bisschen plötzlich, Totschläger!«
    »Halt’s Maul und komm her. Will mal sehen, wie deine Titten sich anfühlen.«
    »Komm selber her.«
    Einige der umstehenden Piraten kicherten. Das Lächeln in Jawys Gesicht verschwand und machte einer finsteren Miene Platz. »Hierher, Metze, oder du lernst Jawy Cutter von einer anderen Seite ken …«
    »He, Jawy, unten in den Laderäumen ist nichts, nur Werkzeug, Fressalien und ’n komisches Instrument zum Musikmachen. Keine Truhen, keine Kisten, nichts!« Die ausgeschwärmten Piraten kamen aus den Laderäumen zurück an Deck.
    »Tod und Teufel!« In Jawy wallte Ärger hoch. Kein Gold, keine Juwelen! Nur die paar lächerlichen Truhen aus den Kabinen im Heck. Und auch die bargen wahrscheinlich keine Schätze. Er ließ den Blonden, den er immer noch hielt, achtlos fallen und ging auf seine Männer zu. »Wie steht’s mit Waffen?«
    »Die Waffenkammer ist so gut wie leer, Jawy«, antwortete ein Pirat mit feuerroter Narbe im Gesicht, »nur ’n paar alte Musketen und rostige Klingen. Dann noch ’ne Reihe Vierpfünderrohre, aber ohne Lafetten.«
    »Tod und Teufel!«, sagte Jawy abermals. Sein Kiefer begann zu knirschen. Der Überfall hatte sich als Reinfall erwiesen. Seine Männer würden über kurz oder lang murren. Und Smith und Evans am lautesten. Natürlich hinter seinem Rücken. Aber wie lange noch?
    Doch dann, plötzlich, kam ihm ein Einfall. Wenn es schon kein Gold gab, sollten die Männer wenigstens ihren Spaß haben. Und er, Jawy, würde dafür sorgen. »Gibt es Pulver in der Pulverkammer?«, fragte er das Narbengesicht.
    »Pulver? Nicht der Rede wert, Jawy, aber ’n paar Fässchen sind es schon.«
    »Das wird uns reichen.« Jawy winkte das Narbengesicht und ein paar andere Männer heran. »Hört jetzt mal genau zu …«
    Nachdem er ihnen seinen Plan erklärt hatte, lachten sie, stießen sich in die Seite und schlugen sich auf die Schulter. »Großartig, Jawy, großartig, das wird lustig, hahaha!«
     
    »Mal herhören, Männer!« Jawy stand inmitten seiner Leute auf dem Hauptdeck der
Torment of Hell
und zeigte hinüber zur
Gallant
, die in drei Kabellängen Entfernung vor sich hin dümpelte. »Wir haben eine kleine Überraschung mit dem Seelenverkäufer vor, sozusagen als Dank dafür, dass er nichts Anständiges im Bauch hatte.«
    Die Piraten drängten sich neugierig vor.
    »Die paar Pfeffersäcke, die da drüben noch leben, werden für uns ein kleines Feuerwerk veranstalten. Sie ahnen ihr Glück noch nicht, aber sie werden dabei für uns in die Luft fliegen!«
    »Wieso?« – »Was heißt das?« – »Was meinst du, Jawy?«
    »Ich habe eine brennende Lunte in ihre Pulverkammer legen lassen, lang genug, dass wir uns in Ruhe dünnmachen konnten, Männer, aber jetzt müsste der Kahn jeden Moment hochgehen!«
    »Hohoho!« – »Mach mal Platz!« – »Lass sehen!« Alle Piraten drängten zur Reling, während Jawy zum Kommandantendeck hochstieg. Von hier würde er einen besonders guten Ausblick