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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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folgte ein ebenso kleiner Arm, der in einem himmelblauen Ärmel steckte. Das Winken verstärkte sich, und ein piepsiges, hohl klingendes Stimmchen erklang:
    »Wui, wie strömt’s da draußen? Luftig huftig? Hier im Gehäus is Bläse gar knapp!«
     
    »Bei den Knochen meiner Mutter, Winzbuckel, ich freu mich, dassde aus dem Schlamassel heil rausgekommen bist, ehrlich, der heilige Christ weiß, dassde ’ne große Klappe hast, aber ich freu mich, ehrlich.«
    Es war spät am Abend, die Sterne am Nachthimmel wirkten zum Greifen nah, und Phoebe saß wie alle anderen in dem glücklich umgedrehten Boot. »Wennich dran denk, dassde dich hier anner Ruderbank festgeklammert hast, hier, genau wo ich sitz, nur eben umgekehrt, verstehste, also mit’m Kopf …«
    Der Zwerg grinste. Seine rotblonden Haarbüschel blinkten silbern im Licht des Mondes. »Wui, wo dein Toches jetzt is, war vorhin meine Fratz, Frau Beischläferin.«
    »Du Giftspritze! Hab dir schon hundertmal gesacht, ich binne Dame un keine Beischl … ich un Phyllis sin Damen! Nich, Phyllis?«
    »Ja, ja, Damen«, bekräftigte Phyllis.
    »Streitet Euch nicht, Verehrteste«, schritt der Magister ein, »der Zwerg meint es nicht so. Wollt Ihr noch etwas von dem Schinken? Ich gebe ihn Euch gerne, auch wenn ich warnend den Finger heben muss: Er ist salzig, und wir haben kein Trinkwasser, jedenfalls heute Abend noch nicht.«
    Der Schinken bildete die einzige Nahrung, die ihnen nach den schrecklichen Ereignissen zur Verfügung stand, und sie verdankten sein Vorhandensein nur der Neugier des kleinen Gelehrten, der es sich nicht hatte nehmen lassen, einen Blick in Stouts Schapp zu werfen. Dort hatte er die Delikatesse gefunden, zusammen mit einer guten Flasche Gin. Der Alkohol war bereits reihum gegangen und hatte allen die Glieder gewärmt, was auch bitter nötig gewesen war, denn die Nächte auf See waren kalt, und sie hatten nur das, was sie auf dem Leib trugen.
    »Möchte sonst noch jemand von dem Schinken?« Der Magister, der neben Vitus auf der Heckbank saß, blinzelte freundlich. In der aufkommenden Dunkelheit nahm er die Insassen des Boots nur umrisshaft wahr. Neun Personen und einen Hahn, der müde die Flügel hängen ließ. Immerhin reichte seine Sehkraft, um ganz vorn im Bug Ó Moghráin zu erkennen, den Mann, dem sie alle am meisten zu verdanken hatten und der sich, nachdem die Bergungsaktion von ihm erfolgreich geleitet worden war, wieder bescheiden zurückgezogen hatte.
    »Keiner mehr?«, fragte der kleine Gelehrte abschließend. »Dann packe ich den Rest wieder ins Schapp.« Fast liebevoll strich er noch einmal über den Schinken, bevor er ihn zurücklegte und die Türen schloss.
    »Wir sollten jetzt zu schlafen versuchen«, sagte Vitus. »Wir werden morgen alle unsere Kräfte brauchen.« Er entledigte sich seiner Weste. »Die Nacht wird kalt werden. Wer von den Männern ein Kleidungsstück entbehren kann, gibt es Miss Phoebe oder Miss Phyllis.«
    »Danke, Cirurgicus«, sagte Phoebe schlicht. »’s is mächtich nett von Euch, Ihr seid ’n echter Gentleman, der weiß, wasser ’ner Dame schuldich is, ’n echter Gentleman seid Ihr.«
     
    »Das gibt’s doch nicht! Ich sehe zwar schlecht, aber so schlecht nun auch wieder nicht!«
    »Was ist los, Magister?«, gähnte Vitus. Er hatte nur wenig und schlecht geschlafen. Den anderen im Boot war es ähnlich ergangen. Wenigstens der Tag versprach schön zu werden, denn die Sonne schob sich gerade wie eine weiß glühende Stahlscheibe über die Kimm, und ein steter Wind aus östlicher Richtung kräuselte sanft die Wellen.
    »Der Schinken ist weg. Jemand hat ihn in der Nacht geraubt!« Das Gesicht des kleinen Gelehrten war die Fleisch gewordene Empörung. »Und wahrscheinlich sofort aufgefressen! Wenn ich den Burschen erwische, dann gnade ihm Gott!«
    Vitus war jetzt hellwach. »Pssst, nicht so laut, Magister. Ehe dein Temperament mit dir durchgeht, lass uns überlegen, ob es überhaupt Zweck hat, Zeter und Mordio zu schreien.«
    »Waaas? Du willst die Sache auf sich beruhen lassen?«
    »Zunächst, ja. Oder glaubst du, der Schuldige würde auf deine Frage freudig ›Ich war’s, Herr Magister, und es soll auch nicht wieder vorkommen!‹ antworten?«
    »Hm, hm.«
    »Siehst du, und deshalb werden wir erst einmal so tun, als wäre gar nichts passiert. Ich will jetzt keine Unruhe im Schiff.«
    Später, als die Sonne vollends am Himmel stand und ihre wärmenden Strahlen wieder Geschmeidigkeit in die steifen Gelenke

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