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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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gebracht hatte, sagte Vitus wie beiläufig zu den anderen: »Übrigens, der Schinken ist fort, er muss in der Nacht über Bord gefallen sein.«
    Ein vielstimmiger Protest war die Antwort:
    »Wieso, der war doch wechgeschlossen, wechgeschlossen war der doch, stimmt’s oder hab ich Recht, Phyllis?«
    »Ja, ja, stimmt.«
    »Es gibt wohl Brosamen, die von der Herren Tisch fallen, Herr Cirurgicus, aber ein Schinken von einem Boot …?«
    »Bei dieser ruhigen See geht ein Schinken nicht von allein über Bord, jemand muss nachgeholfen haben!«
    »Ein
amadán
, wer so etwas tut!«
    Vitus zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern. Doch innerlich hatte er genau registriert, dass es zwei Personen im Boot gab, die mit ihrer Meinung hinter dem Berg hielten: Es waren Fraggles und Bantry.
    Ambrosius schien Ähnliches bemerkt zu haben, denn er faltete seine großen Hände und murmelte: »Weh euch, die ihr jetzt satt seid! Denn euch wird hungern … Lukas, Kapitel 6, Vers 25.«
    »Was hilft’s!« Der kleine Gelehrte blinzelte. »Da die Morgenmahlzeit ausfällt, schlage ich vor, gleich mit der Arbeit zu beginnen.«
    Bride hob den Finger. »Da habt Ihr Recht, Herr Magister, fragt sich nur, mit welcher.«
    Es zeigte sich, dass jeder eine andere Vorstellung davon hatte, was am dringlichsten zu tun sei, bis schließlich der kleine Gelehrte kategorisch feststellte: »So geht es nicht, Ladies und Gentlemen. Einer muss die Führung haben, sonst macht jeder, was er will.«
    Bald darauf hatte das große Beiboot der
Gallant
einen Schiffsführer. Es war der Cirurgicus. Und seine erste Maßnahme war eine verblüffende: Er gab dem Boot einen Namen. »Das Schiff soll
Albatross
heißen«, sagte Vitus, »denn mit diesem Vogel – so hoffe ich wenigstens – verbindet uns vieles. Genau wie wir schafft er den Start nur unter Schwierigkeiten, doch ist er einmal unterwegs, kann er Hunderte, ja Tausende von Meilen über das Meer gleiten, leicht und schwerelos, und genau das wünsche ich mir für uns.«
    Die Mannschaft nickte zustimmend.
    »Ich denke, unsere Überlebensmöglichkeiten hängen in erster Linie von zwei Dingen ab: Wir brauchen ausreichend Proviant, und wir brauchen eine segelfähige
Albatross
. Das eine ist so wichtig wie das andere. Unter der Leitung von Mister Ó Moghráin werden Bride, Fraggles, Bantry und Bruder Ambrosius versuchen, ein Rigg aufzutakeln; die Mädchen, der Magister, der Zwerg und ich werden in der Zwischenzeit sehen, was sich im Schiff noch an Nahrungsmitteln und Gerätschaften findet. Mit ein wenig Glück segeln wir morgen.«
     
    Die Hoffnung, nur einen Tag später schon Kurs Westindien steuern zu können, sollte nicht in Erfüllung gehen. Drei Tage und Nächte musste die Mannschaft schuften, bis die
Albatross
endlich Ähnlichkeit mit einem Segler aufwies.
    Die Schwierigkeiten, denen sich Ó Moghráin gegenübersah, hatten schon mit der Suche nach einem geeigneten Mast begonnen. Die naheliegendste Lösung war natürlich die Hauptmastspiere gewesen, die einigen von ihnen das Leben gerettet hatte, doch erwies sie sich als zu lang und musste mühsam gekürzt werden. Eine schwere Arbeit, denn Werkzeug war kaum vorhanden, und wenn nicht aus der überfluteten Zimmermannswerkstatt das eine oder andere nach oben getrieben wäre, hätten sie gar nichts gehabt.
    Das Stellen des Masts war ebenso problematisch gewesen, denn natürlich besaß die
Albatross
keine Mastspur, was bedeutete, dass Stage doppelt und dreifach in alle Richtungen gespannt werden mussten. Gutes Tauwerk wiederum war Mangelware, und Ó Moghráin hatte pausenlos improvisieren müssen.
    Die größte Schwierigkeit jedoch, neben dem Umstand, dass unter erheblichen Mühen ein Ruderblatt mit Pinne gezimmert werden musste, war die eigentliche Besegelung. Wieder und wieder hatte der sonst so friedfertige Ó Moghráin den Geizhals Stout verflucht, dem alles und jedes zu teuer gewesen war und der sich darum einen Segelmeister und dessen Ausrüstung gespart hatte.
    So war es dem Steuermann unmöglich, aus den vorhandenen zerrissenen Segeln ein passendes herzustellen, und nur einem glücklichen Umstand verdankten es die Schiffbrüchigen, dass am zweiten Tag ihrer Arbeit ein Segel im Wrack hochtrieb, das nicht nur aus gutem Flachs zu sein schien, sondern überdies auch heil war. Seine hohe, rechteckige Form allerdings war ungewohnt und glich eher der eines Bettlakens.
    Ó Moghráin hatte sich ausgiebig am Hinterkopf gekratzt und dann entschieden: »Wir werden es

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