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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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sich erleichtert, das gilt besonders bei den Damen.«
    Alle nickten ernsthaft, und Phoebe nahm der Situation die Peinlichkeit, indem sie feststellte: »’s wird aussehen, wie wenn ’n Huhn auf der Stange sitzt, ja, das wird’s, aber wir werden’s hinkriegen, nich, Gentlemen?«
    Die Männer nickten verschämt.
    Vitus lächelte im Stillen. Phoebe, da war er sicher, würde an Bord ihren Mann stehen.
     
    »Homer spricht in seiner Odyssee von der rosenfingrigen Eos, und wenn ich nach Osten sehe, glaube ich endlich zu wissen, was er damit gemeint hat.« Fast andächtig klangen die Worte des Magisters, als er wenige Stunden später in den erwachenden Morgen blinzelte. Ein Furiosum an schnell wechselnden rosafarbenen Lichtstrahlen stürmte über den Himmel, ließ die Sterne der Nacht verblassen und die See wie gegossenes Erz erscheinen. Er breitete die Arme aus und deklamierte:
    »Als in der Frühe erschien die rosenfingrige Eos,
    Da erhob sich vom Lager der liebe Sohn des Odysseus,
    Zog sich an und hängte das scharfe Schwert um die Schulter,
    Band sich unter die glänzenden Füße die schönen Sandalen
    Und schritt dann aus dem Schlafgemach, einem Gotte vergleichbar …
    und so weiter. Nun ja.« Der kleine Mann zupfte sich die Kleidung zurecht und deutete auf sein salzverkrustetes Schuhwerk. »Ich fürchte, mit mir ist nicht ganz so viel Staat zu machen.«
    Vitus, der neben ihm im Boot stand, lächelte: »Du bist eben kein Königssohn. Aber wenn ich an Odysseus denke, fällt mir ein, dass er zwanzig Jahre unterwegs war; ich wäre froh, wenn wir nur zwanzig Tage brauchten.«
    »Ach was, wie heißt es so schön?
Fortes fortuna adiuvat!
Dem Tapferen hilft das Glück!«
    Ambrosius räusperte sich umständlich und trat an den Mast, wo er sich neben dem Kruzifix zu seiner ganzen beeindruckenden Länge aufrichtete. Langsam schlug er das Kreuz, eine Bewegung, die augenblicklich eine Verwandlung in ihm auslöste. Aus dem Decksmann Ambrosius wurde wieder der bibelfeste Mönch: »
Pax vobiscum
, meine Söhne und Töchter! Dieser Morgen in seiner Vollkommenheit ist ein Zeichen des Herrn, so viel ist gewiss, und es will mir scheinen, als habe Er, der allmächtige Hirte, mit starkem Arm dieses Licht leuchten lassen, diese Wogen geglättet und diesem Wind geboten, nur mäßig zu wehen, auf dass ihr, seine verlorenen Schafe, sicher nach Westen treiben möget, dem großen Ziel entgegen …«
    Eine volle Stunde redete Ambrosius in dieser Form weiter, wobei er dem Herrn für alles dankte, was ihnen widerfahren war, für die Höhen und die Tiefen des Erlebten, ganz besonders aber für die schweren Stunden, denn diese waren nichts anderes als eine Prüfung. Eine Prüfung, die Er ihnen auferlegt hatte und in der sich zeigen sollte, wie fest ein jeder von ihnen zu glauben in der Lage war. Er empfahl alle im Boot mehrfach Seiner Gnade und Barmherzigkeit an und versäumte es auch nicht, für die verirrten Seelen der Piraten Fürbitte zu leisten. Endlich kam er zum Schluss, legte die Hände aneinander und betete zum Herrn:
    »Nähme ich Flügel der Morgenröte
    und bliebe am äußersten Meer,
    so würde mich doch Deine Hand
    daselbst führen und Deine Rechte mich halten.«
    In Ermangelung eines Weihwasserkessels nahm Ambrosius einen Holzbecher, in dem sich eine geringe Menge Trinkwasser befand, welches er eigens zu diesem Zweck geweiht hatte. Er griff hinein und bespritzte damit Mannschaft und Boot. »Gesegnet seien die Menschen und auch das Schiff, das diese Menschen trägt.« Abermals schlug er das Kreuz.
    Phoebe atmete tief durch. »Huuui, das war ’ne schöne Predicht, Vater, ’ne schöne Predicht war das, so, äh … so erhebend, nich, Phyllis?«
    »Ja, ja, erhebend«, bestätigte Phyllis.
    Vitus ergriff das Wort. »Danke, Bruder Ambrosius. Und jetzt: Heiß Segel! Wie besprochen übernimmt Mister Ó Moghráin mit seinen Männern die erste Wache.«
    Er begann in den Bugbereich der Albatross zu klettern. »Die anderen folgen mir nach vorn.«
    Während Fraggles mit Hilfe Ambrosius’ und des Zwergs das Sprietsegel setzte und Ó Moghráin die Pinne übernahm, ging Vitus’ Blick zurück zum Wrack. Langsam wurde der Abstand zu den Überresten der
Gallant
größer. Wehmut umfing ihn. Die Galeone war zwar nur noch ein Trümmerberg aus Balken und Planken, dennoch hatte sie, allein durch ihre unerschütterliche Anwesenheit, der gesamten Mannschaft so etwas wie ein Zuhause bedeutet, ein letztes Verbindungsglied zum guten alten England. Ringsum

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