Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
mich einwenig vor den Herausforderungen, die mich in der Hauptstadt erwarten. Ich wünschte, unsere Reise wäre schon zu Ende â und doch möchte ich, dass sie niemals endet.«
»Sie haben keine Angst gezeigt, als Sie im letzten Jahr so selbstbewusst zu Lord Kono gesprochen haben«, erinnerte er sie.
»In Maruyama Selbstsicherheit zu zeigen, ist einfach, denn dort bin ich von so vielen Menschen umgeben, die mich unterstützen â vor allem Sie.«
»Diese Unterstützung werden Sie auch in Miyako haben. Und Miyoshi Gemba wird ebenfalls dort sein.«
»Meine besten Lehrer â er und Sie.«
»Shigeko«, sagte er und redete sie an wie früher als Kind. »Nichts darf Ihre Konzentration während des Wettkampfes beeinträchtigen. Wir alle müssen unsere Sehnsüchte beiseiteschieben, damit der Weg des Friedens am Ende die Oberhand behält.«
»Nicht beiseiteschieben«, erwiderte sie, »sondern sie in etwas anderes verwandeln.« Sie schwieg, denn sie wagte nicht, noch mehr zu sagen. Dann kam ihr plötzlich eine Erinnerung: an das erste Mal, als sie die Houou gesehen hatte, Männchen und Weibchen, nachdem diese in die Wälder rings um Terayama zurückgekehrt waren, um in den Paulownien zu nisten und ihre Jungen groÃzuziehen.
»Zwischen uns besteht ein sehr starker Bund«, sagte sie. »Ich habe Sie mein ganzes Leben gekannt â vielleicht sogar schon in einem früheren Leben. Selbst wenn ich mit jemand anderem verheiratet werde, darf dieser Bund nie gebrochen werden.«
»Das wird nie passieren, ich schwöre es. Sie werden den Bogen in der Hand halten, aber die Pfeile werden vom Geist des Houou gelenkt werden.«
Da lächelte sie, denn sie wusste genau, dass sie in Geist und Gedanken eins waren.
Später, als die Sonne im Westen unterzugehen begann, gingen sie zum Heck des Schiffes und begannen mit den uralten rituellen Ãbungen, deren Bewegungen leicht und flüssig wirkten, aber Muskeln und Sehnen stählten. Die Sonne glühte auf den Segeln und färbte das groÃe Reiherwappen der Otori golden. Von der Takelage flatterten die Banner Maruyamas. Das Schiff schien in Licht gebadet zu sein, als hätten sich die heiligen Vögel höchstselbst darauf niedergelassen. Und als im Osten der Vollmond des fünften Monats aufging, war der Himmel im Westen immer noch scharlachrot gestreift.
KAPITEL 37
Wenige Tage nach diesem Vollmond brach Takeo von Inuyama nach Osten auf, begeistert verabschiedet von den Bürgern der Stadt. Es war die Jahreszeit der Frühlingsfeste, die Zeit, in der die Erde wieder zum Leben erwachte, wenn der Saft in die Bäume schoss und auch in die Adern von Männern und Frauen. Die Stadt war erfüllt von Zuversicht und Hoffnung. Nicht nur, dass Lord Otori aufbrach, um den Kaiser zu besuchen â für die meisten Menschen eine halb mythische Gestalt â, sondern er lieà auch einen Sohn zurück, und damit war das schlechte Omen, das die Zwillinge dargestellt hatten, aus der Welt geschafft. Die Drei Länder waren noch nie so wohlhabend gewesen. Der Houou nistete in Terayama, Lord Otori beschenkte den Kaiser mit einem Kirin, und diese Zeichen des Himmels bestätigten, was die meisten Menschen bereits anhand ihrer gut genährten Kinder und fruchtbaren Felder merkten: dass Gesundheit und Zufriedenheit des Volkes von einem gerechten Herrscher zeugten.
Doch weder Jubel noch Tanz, weder die Blumen noch die Banner konnten Takeos Sorgen zerstreuen, obwohl er diese zu verbergen versuchte und immer die ruhige, unbewegte Miene zur Schau trug, die ihm inzwischen zur Gewohnheit geworden war. Am meisten beunruhigte ihn Takus Schweigen und alles, was es bedeuten konnte: seinen Abfall oder seinen Tod. Beides wäre eine Katastrophe, und in beiden Fällen blieb die Frage, was mit Maya passiert war. Er sehnte sich danach, umzukehren und sich selbst Klarheit zu verschaffen, doch mit jeder Tagesreise schwand die Wahrscheinlichkeit, Nachrichten zu erhalten. Nach viel Ãberlegen, teilweise gemeinsam mit Minoru, hatte er beschlossen, die Cousins Kuroda in Inuyama zurückzulassen. Er hatte ihnen gesagt, dort seien sie nützlicher für ihn, und sie gebeten, ihn sofort zu benachrichtigen, falls irgendwelche Neuigkeiten von Taku einträfen.
»Jun und Shin sind nicht sehr glücklich«, berichtete Minoru. »Sie haben mich gefragt, womit sie das Misstrauen
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