Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Männer zogen die Rüstungen aus, legten die Waffen ab und schliefen sofort ein.
Als Saga Hideki verletzt worden war und zum Rückzug hatte blasen lassen, war ein Wolkenbruch niedergegangen, aber nun nieselte es nur noch. Takeo wanderte zwischen den Schlafenden umher wie zuvor zwischen den Gefallenen, hörte das leise Zischen von Tropfen auf Blättern und Felsen, das ferne Rauschen des Wasserfalls und den abendlichen Gesang der Vögel. Er spürte die Nässe auf seinem Gesicht und im Haar. Seine rechte Körperhälfte brannte vor Schmerz, von der Ferse bis zur Schulter, und seine Erleichterung über den Sieg wurde durch seine Trauer um den Preis getrübt, den er gekostet hatte. AuÃerdem wusste er, dass die erschöpften Soldaten nur bis zur Morgendämmerung schlafen durften. Dann mussten sie wieder Aufstellung nehmen und nach Inuyama und von dort ins Mittlere Land marschieren, um zu verhindern, dass Zenko im Westen den Aufstand probte. Er selbst wollte baldmöglichst nach Hause, weil ihn Gembas Warnung vor einer Störung des Gleichgewichts seiner Herrschaft erneut zu quälen begann. Das konnte nur heiÃen, dass Kaede etwas passiert war â¦
Man hatte Hiroshi in Kaheis Zelt verlegt, weil dieses am bequemsten war und den besten Schutz vor dem Regen bot. Dort fand Takeo seine Tochter vor. Er erkanntesie kaum wieder, denn sie trug immer noch ihr Kampfgewand, ihr Gesicht war mit Matsch beschmiert und ein Fuà war provisorisch verbunden.
»Wie geht es ihm?«, fragte er und kniete sich neben den blassen, flach atmenden Hiroshi.
»Er lebt noch«, antwortete Shigeko leise. »Ich glaube, es geht ihm ein wenig besser.«
»Morgen transportieren wir ihn nach Inuyama. Sonodas Ãrzte werden sich dort um ihn kümmern.«
Er versuchte, zuversichtlich zu klingen, obwohl er nicht glaubte, dass Hiroshi die Reise überstand. Shigeko nickte wortlos.
»Bist du verwundet worden?«, fragte Takeo.
»Ein Pfeil hat mich am Fuà getroffen. Es ist nichts Ernstes. Ich habe es erst später gemerkt. Auf dem Rückweg konnte ich kaum gehen. Mai musste mich fast tragen.«
Takeo begriff nicht, was sie da sagte.
»Wo warst du denn mit Mai? Ich dachte, ihr wärt bei Gemba gewesen.«
Shigeko sah ihn an und sagte rasch: »Mai hat mich zu Lord Saga gebracht. Ich habe ihn ins Auge geschossen.« Plötzlich musste sie weinen. »Jetzt wird er mich nie mehr heiraten wollen!« Die Tränen wichen einem Lachen, als stünde sie unter Schock.
»Dann haben wir diesen überstürzten Rückzug also dir zu verdanken?« Takeo wurde von dem Gefühl überwältigt, dass in diesem Ausgang eine tiefe Gerechtigkeit lag. Saga hatte seine Niederlage beim friedlichen Wettkampf nicht akzeptieren wollen, sondern den Kampf gesucht. Und nun hatte Shigeko ihm eine ernsthafte, vielleicht sogar tödliche Wunde zugefügt und so ihren Sieg gesichert.
»Ich habe versucht, ihn nur zu verwunden, nicht zu töten«, sagte sie. »Genau wie ich die ganze Zeit in der Schlacht versucht habe, nicht zu töten, sondern die Feinde nur auÃer Gefecht zu setzen.«
»Du hast dich groÃartig geschlagen«, erwiderte Takeo, der seine Gefühle hinter einer feierlichen Sprache verbarg. »Du bist eine würdige Erbin der Otori und der Maruyama.«
Sein Lob brachte sie wieder zum Weinen.
»Du bist erschöpft«, sagte er.
»Nicht mehr als jeder andere. Nicht mehr als du. Du musst schlafen, Vater.«
»Ja, aber erst schaue ich nach Tenba. Ich will nach Inuyama vorausreiten. Kahei führt die Truppen zurück. Du musst mit Gemba Hiroshi und die anderen Verwundeten begleiten. Ich hoffe, Tenba ist wohlauf. Wenn nicht, lasse ich ihn bei dir.«
»Und das Kirin auch«, sagte Shigeko.
»Ja, und das arme Kirin. Es konnte nicht ahnen, welche Reise ihm bevorstand und welche Wirkung es in diesem fremden Land haben würde.«
»Du darfst nicht allein reiten, Vater. Nimm jemanden mit. Am besten Gemba. Und du kannst auf Ashige reiten. Ich brauche kein Pferd.«
Es klarte sich ein wenig auf, und als die Sonne unterging, glühte der Himmel im Westen schwach. Im Osten stand ein fahler Regenbogen. Takeo hoffte, dass dieseinen trockeneren Tag verhieÃ, obwohl die Regenfälle vermutlich noch wochenlang anhalten würden.
Tenba stand neben dem Kirin, den Rücken zum Regen und den Kopf gesenkt. Als Takeo sich näherte, wieherte er
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