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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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klang. Sie riskierte noch einen Blick und sah, dass er aufgestanden war, rief und mit dem eisernen Kriegsfächer in der Hand gestikulierte. Seine Offiziere wichen vor seiner Wut einen Schritt zurück, und einige von ihnen rannten sofort die Steintreppe hinunter, um sich in die Schlacht zu werfen.
    Mai hauchte ihr ins Ohr: »Jetzt, während er steht. Sie haben nur diese eine Chance.«
    Shigeko holte tief Luft und ging in Gedanken jede Bewegung durch. Sie würde sich an der nächstenKiefer auf die Beine ziehen. Sie würde sich zwischen die Stämme stellen. Die Felsen waren glitschig, aber sie musste irgendwie das Gleichgewicht halten, wenn sie den Bogen von der Schulter nahm und die Pfeile aus dem Köcher zog. Diese Bewegung hatte sie während der letzten zwei Tage tausendmal geübt und bisher hatte sie ihr Ziel nie verfehlt.
    Sie schaute noch einmal hin und bemerkte seine verletzlichen Stellen. Sein Gesicht lag frei, seine Augen glänzten zornig und sie konnte die weißere Haut seines Halses deutlich erkennen.
    Sie stand auf. Sie spannte den Bogen und der Pfeil sauste los. Ringsumher prasselte der Regen nieder. Saga sah zu ihr herüber, ließ sich schwer auf den Hocker sinken. Der Mann hinter ihm griff sich an die Brust, als der Pfeil seine Rüstung durchschlug. Erschrockene und überraschte Rufe ertönten, und gleich darauf wurde auf Shigeko geschossen. Ein Pfeil flog an ihr vorbei, schlug in die Kiefer ein und ließ ihr Rinde ins Gesicht spritzen. Ein anderer Pfeil knallte unterhalb ihrer Füße gegen den Felsen. Sie spürte einen heftigen Stoß, als wäre sie gegen einen Stock gestoßen, fühlte aber keinen Schmerz.
    Â»Ducken!«, rief Mai. Doch Shigeko rührte sich nicht vom Fleck und Saga wandte seinen Blick nicht von ihr ab. Sie zog den kleineren Bogen unter ihrer Jacke hervor und legte einen der winzigen Pfeile an. Die Federn des Houou glänzten mattgolden. Gleich bin ich tot , dachte sie, zielte auf Sagas Augen und schoss den Pfeil ab.
    Auf einmal war das Licht so grell, als wäre ein Blitz eingeschlagen, und die Luft zwischen Shigeko und Sagaschien von Flügelschlägen erfüllt zu sein. Die Männer, die Saga umringten, ließen die Bogen fallen und schlugen sich die Hände vor das Gesicht. Nur Saga hielt die Augen offen und sah den Pfeil kommen, bis dieser sein linkes Auge durchbohrte und er von seinem eigenen Blut geblendet wurde.
    Kahei kämpfte den ganzen Vormittag an der südlichen Flanke. Dort hatte er seine Truppen verstärkt, weil er befürchtete, Sagas Armee könnte den Versuch unternehmen, das Feldlager von dieser Seite zu umzingeln. Trotz der Zuversicht, die er am letzten Abend gegenüber Takeo bekundet hatte, waren seine Sorgen inzwischen gewachsen, und er fragte sich, wie lange seine übermüdeten Soldaten den scheinbar endlosen Angriffswellen noch standhalten konnten, verfluchte den Regen dafür, dass er ihre überlegenen Waffen außer Gefecht setzte, und erinnerte sich an die letzten Stunden der Schlacht von Yaegahara, als die Otoriarmee begriffen hatte, dass sie verraten worden und die Niederlage unausweichlich war. Damals hatten sie mit wilder, wütender Verzweiflung weitergekämpft, bis kaum noch ein Mann auf den Beinen gewesen war. Sein eigener Vater hatte zu den wenigen Überlebenden gehört. Sollte sich die Familiengeschichte wiederholen, sollte ihm das Schicksal beschieden sein, mit der Nachricht von einer vollkommenen Niederlage nach Hagi zurückzukehren?
    Doch all diese Befürchtungen bestärkten nur seinen Entschluss, als Sieger aus der Schlacht hervorzugehen.
    Takeo kämpfte in der Mitte der Front. Er rief sich alles in Erinnerung, was er jemals von den Meistern der Krieger und vom Stamm gelernt hatte, um Müdigkeit und Schmerz zu unterdrücken, und er staunte über die Entschlossenheit und Disziplin der Männer, die ihn umringten. Als die Schlacht plötzlich abflaute, weil man Sagas Truppen zurückgeschlagen hatte, warf er einen Blick auf Tenbas Schulter und sah, dass das Pferd einen tiefen Schnitt auf der Brust hatte, aus dem das Blut in das regennasse Fell quoll. In dieser kurzen Kampfpause schien sich das Pferd seiner Wunde bewusst zu werden und begann vor Schreck zu zittern. Takeo glitt aus dem Sattel und befahl einem der Fußsoldaten, das Pferd zum Feldlager zu bringen. Er selbst bereitete sich darauf vor, dem nächsten Angriff zu Fuß

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