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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Prophezeiung nicht auf seinen anderen Sohn bezieht.«
    Als Kaede sie wortlos anstarrte, fuhr sie fort: »Vergib mir, große Schwester. Ich dachte, du wüsstest Bescheid.«
    Â»Erzähl es mir«, sagte Kaede tonlos.
    Â»Das darf ich nicht. Wenn es etwas ist, das dein Mann dir verheimlicht hat …«
    Â»Erzähl es mir«, wiederholte Kaede und hörte, wie ihre Stimme brach.
    Â»Ich habe Angst, dir noch mehr Leid zu bereiten. Takeo soll es dir nach seiner Rückkehr erzählen.«
    Â»Er hat einen Sohn?«, fragte Kaede.
    Â»Ja«, seufzte Hana. »Der Junge ist siebzehn Jahre alt. Seine Mutter war Muto Yuki.«
    Â»Kenjis Tochter?«, sagte Kaede mit schwacher Stimme. »Und Kenji hat es die ganze Zeit gewusst?«
    Â»Vermutlich. Auch diese Tatsache ist im Stamm kein Geheimnis.«
    Shizuka, Zenko, Taku? Sollten sie alle davon gewusst haben, all die Jahre, ohne dass sie etwas geahnt hatte? Sie begann stärker zu zittern.
    Â»Du fühlst dich unwohl«, sagte Hana übertrieben besorgt. »Ich hole dir Tee. Soll ich nach Ishida schicken lassen?«
    Â»Warum hat er mir nie davon erzählt?«, fragte Kaede. Sie ärgerte sich nicht so sehr über die Untreue, und auf die Frau, die seit Jahren tot war, war sie nicht besonders eifersüchtig. Was sie erschütterte, war die Tatsache, dass Takeo sie hintergangen hatte. »Hätte er es mir doch nur erzählt.«
    Â»Vermutlich wollte er dich schützen«, sagte Hana.
    Â»Es ist bloß ein Gerücht«, sagte Kaede.
    Â»Nein, ich bin dem Jungen begegnet. Ich habe ihn mehrere Male in Kumamoto gesehen. Wie die meisten Angehörigen des Stammes ist er grausam und falsch. Du würdest nie im Leben glauben, dass er Shigekos Halbbruder ist.«
    Hanas Worte waren Salz in Kaedes wunder Seele. Sie rief sich alle Wesenszüge Takeos in Erinnerung, die sie im Laufe ihres gemeinsamen Lebens beunruhigt hatten: die seltsamen Fähigkeiten, das gemischte Blut, das widernatürliche Erbe, das sich in den Zwillingen verkörperte. Die Trauer hatte sie bereits tief erschüttert, und der Schock, den diese Enthüllung verursachte, ließ allesins Wanken geraten, woran sie sich bisher in ihrem Leben gehalten hatte. Sie hasste Takeo. Sie verabscheute sich selbst dafür, ihm ihr Leben gewidmet zu haben. Sie gab ihm die Schuld an allem, was sie erlitten hatte, an der Geburt der verfluchten Zwillingsschwestern, dem Tod ihres heißgeliebten Sohnes. Sie wollte ihn verletzen und ihm alles nehmen.
    Sie merkte, dass sie noch seine Skizzen hielt. Wie immer dachte sie beim Anblick der Vögel an Freiheit, aber das war nur Illusion. Vögel waren ebenso unfrei wie Menschen und genauso durch Hunger, Triebe und Tod beschränkt. Sie war mehr als ihr halbes Leben an einen Mann gebunden gewesen, der sie verraten hatte und der sie nicht verdiente. Sie riss die Skizzen in Fetzen und trampelte darauf herum.
    Â»Hier kann ich nicht bleiben. Was soll ich tun?«
    Â»Komm mit mir nach Kumamoto«, sagte Hana. »Mein Mann wird für dich sorgen.«
    Kaede erinnerte sich an Zenkos Vater, der ihr das Leben gerettet hatte und ihr Held gewesen war, den sie jedoch um Takeos willen verleugnet und als Feind betrachtet hatte.
    Â»Was war ich doch für eine Närrin«, weinte sie.
    Eine fieberhafte Kraft ergriff Besitz von ihr. »Schick nach den Jungen. Sie sollen sich reisefertig machen«, sagte sie zu Hana. »Wie viele Männer haben dich begleitet?«
    Â»Dreißig oder vierzig«, antwortete Hana. »Sie sind im Schloss untergebracht.«
    Â»Dort befinden sich auch meine Männer«, sagteKaede. »All jene, die nicht mit ihm nach Osten gezogen sind.« Sie brachte es nicht fertig, mein Mann zu sagen oder seinen Namen zu nennen. »Wir nehmen sie alle mit. Zehn deiner Männer sollen zu mir kommen. Ich habe einen Auftrag für sie. Wir brechen noch vor Ende der Woche auf.«
    Â»Ganz wie du möchtest, Schwester«, stimmte Hana zu.

KAPITEL 51

    Miki hatte die ganze Nacht am Flussufer auf Mayas Rückkehr gewartet. Bei Anbruch der Dämmerung begriff sie, dass ihre Schwester in das Reich der Geister geflohen war, in das sie ihr nicht folgen konnte. Sie wollte nur noch eines: nach Hause. Sie war erschöpft und hungrig und spürte die Macht der Katze, die nun frei war und ihr unaufhörlich Kraft abzog. Doch als sie zum Tor des Hauses am Fluss gelangte, hörte sie Rufe der Trauer. Sie

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