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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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begriff, dass das Baby letzte Nacht gestorben war, und in ihr keimte ein schrecklicher Verdacht. Sie hockte sich voller Furcht draußen vor die Mauer, den Kopf in beiden Händen. Sie hatte Angst hineinzugehen, konnte aber nirgendwo anders hin.
    Eine Dienerin eilte an ihr vorbei, ohne sie zu sehen, und kehrte mit Dr. Ishida zurück, der bleich und erschrocken wirkte. Keiner von beiden sprach Miki an, obwohl sie sie gesehen haben mussten, denn nicht lange danach kam Haruka und hockte sich neben sie.
    Â»Maya? Miki?«
    Miki sah sie an, und Tränen begannen ihr über die Wangen zu laufen. Sie wollte etwas sagen, traute sich aber nicht, weil sie befürchtete, unwillkürlich ihren Verdacht zu äußern.
    Â»Was um Himmels willen hast du hier zu suchen? Du bist Miki, oder?«
    Sie nickte.
    Â»Alles ist so furchtbar«, sagte Haruka und fing auch an zu weinen. »Komm hinein, Kind. Du siehst ja schrecklich aus. Hast du wie ein wildes Tier im Wald gelebt?«
    Haruka führte sie eilig in den hinteren Teil des Hauses, wo sich Chiyo, deren Gesicht ebenfalls tränenüberströmt war, um das Feuer kümmerte. Chiyo schrie überrascht auf und begann etwas von Unglück und Flüchen zu murmeln.
    Â»Hör auf damit«, sagte Haruka. »Das Kind hat nun wirklich keine Schuld daran.«
    Der über dem Feuer hängende Eisenkessel fing leise an zu zischen, und die Luft wurde von Dampf und Rauch erfüllt. Haruka holte eine Schüssel mit Wasser und wusch Miki Gesicht, Hände und Beine. Das heiße Wasser brannte in den vielen Schnitten und Kratzern.
    Â»Wir bereiten ein Bad für dich vor«, sagte Haruka. »Aber zuerst musst du etwas essen.« Sie tat Reis in eine Schale und goss Brühe darüber. »Wie dünn sie ist!«, flüsterte sie Chiyo zu. »Soll ich ihrer Mutter sagen, dass sie da ist?«
    Â»Lass das lieber«, antwortete Chiyo. »Warte noch damit. Es könnte Kaede noch tiefer aufwühlen.«
    Miki weinte so sehr, dass sie kaum etwas essen konnte. Sie atmete stoßweise und schluchzend.
    Â»Erzähl uns alles, Miki«, drängte Haruka sie. »Dann geht es dir besser. Nichts ist so schlimm, als dass man es nicht mit jemandem teilen könnte.«
    Als Miki benommen den Kopf schüttelte, sagte Haruka: »Genau wie ihr Vater, als er zum ersten Mal dieses Haus betrat. Er hat wochenlang kein Wort gesprochen.«
    Â»Am Ende hat er die Sprache wiedergefunden«, murmelte Chiyo. »Ein Schock hatte sie ihm geraubt und ein Schock hat sie ihm zurückgegeben.«
    Später kam Dr. Ishida herein, um Chiyo Anweisungen für die Zubereitung eines Schlaftees für Kaede zu geben.
    Â»Schauen Sie nur, wer hier ist«, sagte Haruka und zeigte auf Miki, die sich bleich und zitternd in einer Ecke der Küche zusammengekauert hatte.
    Â»Ja, ich habe sie vorhin schon gesehen«, erwiderte Ishida zerstreut. »Haltet sie von ihrer Mutter fern. Lady Otori ist von der Trauer überwältigt worden. Jede weitere Belastung könnte sie in den Wahnsinn treiben. Sobald es deiner Mutter bessergeht, darfst du zu ihr«, sagte er recht streng zu Miki. »In der Zwischenzeit darfst du niemandem zur Last fallen. Gib ihr etwas von dem Tee zu trinken, Haruka. Er wird sie beruhigen.«
    In den nächsten paar Tagen wurde Miki in einem abgelegenen Lagerraum untergebracht. Je schärfer ihr Kikutagehör wurde, desto deutlicher hörte sie die Geräusche im Haus. Sie hörte, wie Sunaomi und Chikara miteinander flüsterten, bedrückt, aber auch irgendwie aufgeregt über den Tod ihres kleinen Cousins. Sie hörte das furchtbare Gespräch zwischen ihrer Mutter und Hana und fühlte sich gedrängt, zu ihnen zu rennen und einzugreifen, wagte aber nicht, den Mund aufzutun. Sie hörte, wie Dr. Ishida verzweifelt auf ihre Mutter einredete und schließlich zu Haruka sagte, er wolle selbst nach Inuyama reisen, um Takeo zu treffen.
    Nehmen Sie mich mit , hätte sie ihm am liebsten zugerufen, aber er wollte so schnell wie möglich los und machte sich viele Sorgen: um Kaede, um seine eigene Frau Shizuka, um Takeo. Er wollte sich nicht auch noch ein stummes, krankes Kind aufbürden.
    Während der vielen stillen und einsamen Stunden hatte Miki reichlich Zeit, voller Reue über die Reise mit Yuki und die Rache nachzudenken, die die Geisterfrau an ihrer Mutter genommen hatte. Sie hatte das Gefühl, von Anfang an gewusst zu haben, welche

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