Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
wusste aber, dass dies nicht ganz stimmte. Seit sie zur Frau geworden war, bedrängten sie Träume und auch die Sehnsucht danach, von einem Mann berührt zu werden, der Wunsch, seinen kräftigen Körper neben dem ihren zu spüren, seine Haut, sein Haar, seinen Geruch.
»Sehr schade, dass sich Mädchen nicht wie Jungen Geliebte nehmen dürfen«, sagte sie.
»Sie müssen nur etwas diskreter sein«, erwiderte Shizuka lachend. »Gibt es etwa jemanden, den du begehrst, Shigeko? Bist du schon älter, als ich glaube?«
»Natürlich nicht. Ich würde nur gern wissen, wie das ist â die Dinge, die Männer und Frauen miteinander tun, Heirat, Liebe â¦Â«
An diesem Abend beobachtete sie Hiroshi aufmerksam, als er mit ihnen zu Abend aÃ. Er wirkte nicht wie jemand, den die Liebe in den Wahnsinn trieb. Genau wie ihr Vater war er nicht besonders groÃ, aber breiter gebaut und mit vollerem Gesicht. Seine Augen waren länglich und ausdrucksvoll, sein Haar war dick und tiefschwarz. Er schien bester Laune zu sein, sprühte vor Zuversicht, was die kommende Ernte betraf, und wollte unbedingt von den Ergebnissen seiner neuen Ausbildungsmethoden für Männer und Pferde erzählen. Er neckte die Zwillinge und schmeichelte Kaede, riss Witze mit Takeo und schwelgte in Erinnerungen an die alten Zeiten, den Rückzug beim Taifun und die Schlacht um Hagi. Ein- oder zweimal hatte Shigeko im Verlauf des Abends das Gefühl, als ruhte sein Blick auf ihr, aber wenn sie ihn anschaute, sah er immer weg. Er sprach sie nur wenige Male direkt an und da sehr förmlich. Bei diesen Gelegenheiten war seine Miene weniger lebhaft und wirkte ruhiger, ja fast gedankenverloren. Sie erinnerte Shigeko an die Miene, die ihre Lehrer im Tempel beim Meditieren hatten, und das war nicht verwunderlich, denn Hiroshi war wie sie im Weg des Houou ausgebildet worden. Dies tröstete sie ein wenig, denn so würden sie immer Gefährten sein, wenn auch nicht mehr. Er würde sie immer verstehen und unterstützen.
Kurz bevor sie sich zurückzogen, fragte er sie nach dem jungen Pferd, von dem sie ihm bereits in einem Brief berichtet hatte.
»Wenn Sie morgen zum Schrein kommen, können Sie es sehen«, sagte sie.
Er zögerte kurz und sagte dann: »Mit gröÃtem Vergnügen. Ich werde Sie begleiten.« Doch er klang kühl und seine Worte waren förmlich.
Sie schlenderten Seite an Seite über die Steinbrücke, wie sie es oft getan hatten, als sie noch ein Kind und er noch kein richtiger Mann gewesen war. Es war windstill und das Licht war klar und golden, als die Sonne im Osten über den Bergen aufging und die glatte Wasseroberfläche des Flusses in einen strahlenden Spiegel verwandelte. Das Bild der Welt darin schien wirklicher zu sein als die, in der sie sich bewegten.
Normalerweise wurde Shigeko von zwei Wachen aus dem Schloss begleitet, die respektvoll einige Schritte vor und hinter ihr gingen, doch heute war nur Hiroshi bei ihr. Er trug Reitkleidung, Hose und lederne Beinschützer, und im Gürtel ein Schwert. Shigeko war ähnlich angezogen, hatte ihr Haar zurückgebunden und war wie immer in Hagi nur mit dem kurzen Stock bewaffnet, den sie unter ihrer Kleidung verborgen hatte. Sie erzählte von dem Pferd, und Hiroshi taute langsam auf, bis er mit ihr diskutierte, wie er es vor fünf Jahren auch getan hätte. Widersinnigerweise enttäuschte sie dies genauso sehr wie seine Förmlichkeit.
Er betrachtet mich als kleine Schwester, genau wie einen der Zwillinge.
Die Morgensonne erhellte den alten Schrein. Hiroki war schon wach und Hiroshi begrüÃte ihn freudig, denn als Junge hatte er viele Stunden in der Gesellschaft des älteren Mannes verbracht, der ihn in Pferdezucht und Zureiten unterrichtet hatte.
Tenba hörte Shigekos Stimme und wieherte. Als sie die Weide erreichten, trottete er zu ihr, legte aber die Ohren an und rollte beim Anblick Hiroshis die Augen.
»Er ist wild und wunderschön!«, rief Hiroshi aus. »Wenn er gezähmt werden kann, wird er ein groÃartiges Kriegspferd sein.«
»Ich möchte ihn Vater schenken«, sagte Shigeko. »Aber ich will nicht, dass Vater mit ihm in den Krieg zieht! Wir leben doch im Frieden, oder?«
»Am Horizont zieht ein Sturm auf«, erwiderte Hiroshi. »Darum bin ich hierherbestellt worden.«
»Ich hatte gehofft, Sie wären gekommen, um mein Pferd zu sehen!«,
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