Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Schritte dorthin lenkte. Oft gab es einen plötzlichen Regenschauer, wenn er vorbeikam, und vor den hoch oben dahinziehenden Wolken brach sich das Sonnenlicht in unzählige Teile eines Regenbogens. Hisao betrachtete sie und betete dabei stumm für den Geist seines GroÃvaters, darum, dass dieser wohlbehalten durch die Welt der Toten reiste und unter guten Vorzeichen wiedergeboren wurde, und danach senkte er den Blick und suchte die Gebirgszüge, die sich nach Osten und Norden erstreckten, nach einem anderen Fremden ab, der sich dem Dorf näherte.
Er war halb erleichtert und halb betrübt darüber, dass der Geist des alten Mannes weitergezogen war. Er hielt sich nicht wie der seiner Mutter am Rand seines Bewusstseins auf und bereitete ihm Kopfschmerzen mit seinen unverständlichen Forderungen. Hisao hatte seinen GroÃvater nur eine Stunde gekannt, doch er vermisste ihn: Kenji hatte sich selbst für die Art und die Stunde seines Todes entschieden. Sein Geist hatte ihn in Frieden verlassen, und das machte Hisao froh, er bedauerte aber trotzdem den Tod seines GroÃvaters und nahm es Akio übel, dass dieser ihn verursacht hatte. Doch das verschwieg er.
Der Sommer verging und niemand kam.
Während der heiÃen Sommermonate wurden alle Dorfbewohner von Befürchtungen geplagt, vor allem Gosaburo, denn man erfuhr nichts über das Schicksal seiner Kinder, die immer noch im Schloss von Inuyama gefangen saÃen. Gerüchte und Spekulationen machten die Runde: Sie seien schlecht behandelt worden und daher halb tot, eines sei gestorben, vielleicht sogar beide, und einige Tage behauptete man erfreulicherweise sogar, sie seien entkommen. Gosaburo magerte ab, seine Haut warf Falten, sein Blick wurde stumpf. Akio hatte immer weniger Geduld mit ihm, ja, er war jedem gegenüber gereizt und unberechenbar. Hisao argwöhnte, dass sein Vater die Nachricht von der Hinrichtung der jungen Leute mit einer gewissen Freude aufgenommen hätte, weil Gosaburos Hoffnungen damit zunichtegemacht würden und er einen Grund mehr hätte, Rache zu nehmen.
Scharlachrote Herbstlilien blühten in üppiger Fülle über Kenjis Leichnam, obwohl niemand die Zwiebeln gesetzt hatte. Die Vögel machten sich auf ihren langen Weg nach Süden und die Nächte waren erfüllt von den Rufen der Gänse und dem Klatschen ihrer Flügel. Im neunten Monat war der Mond groà und golden. Das Laub von Sumach und Ahorn wurde karmesinrot, das der Buche kupferfarben, das von Weide und Ginkgo golden. Hisao verbrachte seine Tage damit, die Dämme fürden Winter zu reparieren, vermodertes Laub und Dung auf den Feldern auszubringen, Feuerholz im Wald zu sammeln. Sein Bewässerungssystem war ein voller Erfolg: Das Feld auf dem Berg erbrachte eine gute Ernte an Bohnen, Möhren und Kürbissen. Er entwickelte eine neuartige Harke, die den Dung gleichmäÃiger auf den Feldern verteilte, und experimentierte mit dem Gewicht, dem Winkel und der Schärfe von Axtklingen. Im Dorf gab es eine Schmiede, und immer, wenn Hisao Zeit hatte, ging er dorthin, um dem Schmied zuzuschauen und mit dem Blasebalg das Feuer zu schüren, wenn das Eisen auf geheimnisvolle Weise in Stahl verwandelt wurde.
Zu Beginn des siebten Monats hatte man Imai Kazuo nach Inuyama geschickt, um die Wahrheit über das Schicksal der Geiseln herauszufinden. Er kehrte mitten im Herbst mit der guten, wenn auch verwirrenden Neuigkeit zurück, dass die Geiseln noch am Leben und immer noch im Schloss von Inuyama gefangen seien. Er wusste noch anderes zu berichten: dass Lady Otori schwanger sei und dass Lord Otori ein prächtiges Aufgebot von Botschaftern zur Hauptstadt schicken wolle. Diese seien zur gleichen Zeit in Inuyama gewesen wie er und stünden kurz vor dem Aufbruch nach Miyako.
Die erste Neuigkeit gefiel Akio weit weniger, als er vorgab, die zweite weckte verbitterten Neid in ihm und die dritte beunruhigte ihn tief.
»Weshalb macht Otori dem Kaiser Avancen?«, fragte er Kazuo. »Was hat das zu bedeuten?«
»Der Kaiser hat einen neuen General ernannt, SagaHideki, der während der letzten zehn Jahre damit beschäftigt war, sein Herrschaftsgebiet im Osten zu erweitern. Offenbar gibt es mit ihm endlich einen Kriegsherrn, der die Otori herausfordern kann.«
Akios Augen schimmerten in einem seltenen Ausdruck von Bewegtheit. »Irgendetwas hat sich verändert, das kann ich spüren. Otori ist verletzlicher geworden.
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