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Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels

Titel: Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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hilflos waren. Ein Säugling war völlig schutzlos …
    Kotaro war stolz auf sich, sie bemerkte eine gewisse Prahlerei in seinem Ton. Plötzlich hasste sie ihn wegen des Mordes und des Vergnügens, das er daran hatte. Sie hasste diese Männer, die mit ihrer Skrupellosigkeit und Grausamkeit so viele Leben einschließlich ihres eigenen beherrschten. Sie hatten sie gezwungen, das erste Kind, das sie empfangen hatte, loszuwerden. Jetzt glaubte sie eine Drohung gegen ihren kleinen Sohn herausgehört zu haben, eine Mahnung, ihnen zu gehorchen. Sie war von bitterem Groll selbst gegenüber Kenji erfüllt, obwohl sie immer geglaubt hatte, dass er sie wirklich mochte.
    Jetzt betrachtete sie ihn. Sein Gesicht war ausdruckslos, ohne ein Zeichen von Schrecken oder Missbilligung.
    Â»Shigeru wird also der Nächste sein«, erklärte Kotaro. »Ich gebe zu, das wird schwieriger.«
    Â»Wir haben uns über Shigeru noch nicht ganz geeinigt«, widersprach Kenji. »Die Mutofamilie hat sogar die Anweisung, sich an keinem Anschlag auf sein Leben zu beteiligen.«
    Als Kotaro nicht gleich darauf einging, fuhr Kenji fort: »Shigeru gehört mir. Ich habe ihm in Yaegahara das Leben gerettet. Aber davon abgesehen ist er uns allen viel nützlicher, solange er lebt.«
    Â»Ich will mich mit dir darüber nicht zerstreiten«, sagte Kotaro. »Die Einigkeit unter den Familien des Stamms ist weitaus wichtiger als Sadamu oder Shigeru. Lassen wir das Los entscheiden. Wir werden sehen, ob der Himmel auf seiner Seite ist.« Er nahm eine Handvoll Go-Steine vom Brett und legte sie in ihren Beutel, den er Shizuka hinhielt. »Nimm einen«, sagte er.
    Sie zog einen Stein aus dem Beutel und legte ihn auf die Matte zwischen ihnen. Er war weiß. Alle starrten sekundenlang darauf.
    Â»Mit dem passenden Gegenstück gehört er dir«, sagte Kotaro. »Shizuka, schließe die Augen. Ich lege dir in jede Hand einen Stein von jeder Farbe. Dann soll Kenji wählen.«
    Sie streckte ihrem Onkel die Fäuste entgegen und betete, der Himmel solle ihn leiten. Kenji tippte auf ihre linke Hand. Sie öffnete sie – der schwarze Stein lag auf ihrer Kikutahand. Spontan, weil sie Kotaro nicht traute, öffnete sie die andere Hand. Der Stein war weiß.
    Kenji sagte mit unendlicher Freundlichkeit: »Ihr habt einen Versuch. Damit bin ich einverstanden. Aber wenn ihr scheitert, gehört Shigerus Leben wieder mir.«
    Â»Wir werden nicht scheitern«, sagte Kotaro.

KAPITEL 38 

    Shigeru begann wieder zu reisen, in Kleidern ohne Kennzeichen und mit verborgenem Gesicht, wobei er sein Äußeres für jede neue Wanderung veränderte und hoffte, so nicht erkannt zu werden. Im Lauf des Jahres waren die neuen Grenzen stärker befestigt worden, es gab Barrieren an Brücken und Kreuzungen. Die Otori hatten den ganzen Süden verloren und waren von den östlichen Gebieten auf einen schmalen Streifen entlang der Küste zurückgedrängt worden. Shigeru wanderte durch das ganze verbliebene Land, er lernte es genau kennen, sprach mit den Bauern und spürte, dass sie oft vermuteten, wer er war, aber sein Geheimnis zu bewahren wussten. Er erfuhr, wie sie das Dorfleben organisierten, wer ihre Dorfältesten waren, lernte ihr Verlangen kennen, ihren Herren ihre Kümmernisse mitzuteilen.
    Als die Regenzeit früh im sechsten Monat seine Reisen unterbrach, verbrachte er die Tage damit, umfangreiche Berichte über alles zu schreiben, was er gesehen und gehört hatte. Mit Ichiro arbeitete er bis tief in die Nacht.
    An einem Spätnachmittag, als der Regen unablässig aufs Dach trommelte, von den Vorsprüngen tropfte, die Rohre hinabrann und die neuen Teiche im Garten füllte, erschien Chiyo und sagte ihm, ein Besucher sei angekommen.
    Â»An einem solchen Tag?«, murmelte Ichiro. »Das muss ein Verrückter sein.«
    Chiyo, die mit zunehmendem Alter und der neuen Zwanglosigkeit im Haushalt noch vertraulicher geworden war, sagte: »Jedenfalls ein ziemlich ungewöhnlicher Besucher, wenn schon kein Verrückter. Er sieht aus wie ein Händler, aber er fragte nach Lord Shigeru, als ob er ein alter Freund wäre.«
    Â»Wie heißt er?«, fragte Shigeru, der nur halb zugehört hatte.
    Â»Muto«, antwortete Chiyo.
    Â»Ah.« Shigeru beendete den Satz, den er gerade schrieb, und legte den Pinsel weg. Einen Moment bog und streckte er die Finger. »Du

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