Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
nie gesehen, dass einer der beiden die Beherrschung verlor. Wenn sie wütend wurden, redeten sie immer freundlicher, nie gaben sie ihre eiserne Selbstdisziplin auf. Sie hatte gesehen, wie beide mit der gleichen kühlen Präzision und Gefühllosigkeit töteten. Jetzt stellte sie sich Shigeru unter ihren Messern vor und war erstaunt über den Schmerz, den sie dabei empfand, und das völlig uncharakteristische Schuldgefühl.
Der Wind lieà die dünnen Wandschirme rattern. »Das ist Ostwind«, sagte Kotaro jetzt leicht gereizt.
»Er wird dich eine Weile in Hofu festhalten«, bemerkte Kenji, denn Kotaro war aus dem Westen gekommen und auf dem Heimweg nach Inuyama. »Wir werden Zeit für ein paar weitere Spiele haben.« Die beiden Männer hatten Go gespielt und das Tablett mit dem Brett und den Go-Steinen stand auf der Matte zwischen ihnen. »Was hat dich überhaupt nach Maruyama gebracht?«
»Ein weiterer, sehr gut bezahlter Auftrag von Lord Iida«, antwortete Kotaro. »Es darf nicht über diese Wände hinausdringen, aber es macht mir nichts aus, dir davon zu erzählen. Sadamu ist wütend, weil die westlichen Clans ihn beim Angriff auf die Otori nicht unterstützt haben. Er hat zu viele Männer in Yaegahara verloren, als dass er weitere Feldzüge unternehmen könnte, doch er will die Seishuu bestrafen, vor allem Lady Maruyama. Sie soll der Familie ihres Mannes gehorchen, wie sich das für eine gute Ehefrau gehört.«
Kotaro schaute kurz zu Shizuka hinüber. »Deinem Krieger hat man auch die Flügel beschnitten, nicht wahr? Ist er entsprechend beschämt und reumütig?«
»Er versucht das vorzugeben«, antwortete Shizuka. »Sein Leben hängt davon ab. Insgeheim ist er sehr wütend. Er hasst es, dass er gezwungen ist, einem Verräter zu dienen, und er fürchtet, seine Brüder verdrängen ihn, wenn sein Vater stirbt, während er bei den Noguchi und weit entfernt von seiner Domäne ist.«
»Geschieht ihm recht!« Kotaro lachte wieder. »Behalte ihn im Auge wie im vergangenen Jahr, vor allem, wenn er weitere überstürzte Treffen plant, und informiere uns sofort. Du bist in einer perfekten Lage, schnell zu handeln, und so werde ich nicht noch einmal eine so lange und ermüdende Reise machen müssen.« Er beugte sich vor und sagte leiser zu Kenji: »Ich hatte keine Ahnung, dass es so wenige Stammesfamilien und gar keine Kikuta in Maruyama gibt. Deshalb musste ich selbst dorthin. Sterben wir aus? Warum haben wir so wenig Kinder?«
Er wandte sich an Shizuka: »Wie steht es mit deinem Sohn? Hat er Kikutahände?«
Das war das Erste, was sie überprüft hatte, sobald das Baby geboren war, sie hatte nach der geraden Linie über die Handfläche gesucht, dem Kennzeichen der Kikutafamilie, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Jetzt schüttelte sie den Kopf. »Er gleicht seinem Vater.«
»Durch die Blutvermischung scheinen die Fähigkeiten zumeist abzunehmen«, knurrte Kotaro. »Deshalb ist der Stamm immer dagegen gewesen. Aber es ist enttäuschend: Es hat Ausnahmen gegeben, bei denen die Talente zugenommen haben. Ich hatte gehofft, dein Sohn gehört dazu.«
»Seine Talente können sich entwickeln, wenn er älter wird«, sagte Kenji. »Wie bei den Muto. In ihm flieÃt schlieÃlich auch Mutoblut.«
»Wie alt ist er?«, fragte Kotaro.
»Er ist acht Monate«, antwortete Shizuka.
»Nun, gewöhne dich nicht zu sehr an ihn. Säuglinge können aus den verschiedensten Gründen plötzlich sterben.« Er grinste, als er fortfuhr: »Wie Maruyama Naomis Sohn, der vor wenigen Tagen starb. Er war ungefähr ebenso alt.«
»Er starb, während du in Maruyama warst?«, fragte Kenji noch sachlicher als zuvor.
»Sadamu wollte, dass sie gewarnt wurde. Stärker kann man eine Frau nicht beeindrucken.«
»Du hast ihr Kind getötet?«, rief Shizuka wider Willen aus.
»Töten ist ein starkes Wort. Ich musste kaum etwas tun. Ich schaute ihm nur in die Augen. Er schlief ein, um nie mehr aufzuwachen.«
Sie versuchte die Schauder zu verbergen, die sie überliefen. Von dieser Fähigkeit, die nur die Kikuta besaÃen, hatte sie gehört: Sie führten durch ihren Blick eine plötzliche Bewusstlosigkeit herbei. Ein Erwachsener konnte daraus erwachen, obwohl die meisten gewöhnlich getötet wurden, während sie
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