Der Clan der Otori – Die Weite des Himmels
Shigeru würde nie etwas Unedles tun.«
Der Spott in seinem Ton trieb Shigeru das Blut ins Gesicht. Er bemühte sich, seinen Zorn zurückzuhalten; intuitiv war ihm klar, dass er sich nur beherrscht, ruhig und höflich mit Iida auseinandersetzen konnte.
»Man hat mir gesagt, wie gut Sie aussehen«, fuhr Sadamu fort. »Aber hübsche Jungen werden zu schwachen Männern. Wenn sie jung sind, werden sie durch zu viel Aufmerksamkeit verwöhnt. Falls Sie das Beste sind, was die Otori hervorbringen können, dann haben wir meiner Meinung nach nichts zu fürchten.«
Shigeru staunte wider Willen über die Unverschämtheit des Mannes â allein, unbewaffnet, von Feinden umgeben, war Sadamu selbstbewusst genug, ihn absichtlich zu beleidigen.
»Der Mann, der mich stürzen sah â haben Sie den auch?«
Shigeru nickte zustimmend.
»Bringen Sie ihn zu mir.«
»Er ist noch dort, wo Lord Iida stürzte. Er wird morgen zu uns kommen.«
Shigeru hörte ein Gemurmel der Männer rundum, sie waren wütend über den kränkenden Ton, verärgert über Iidas Unverschämtheit. Er wusste, ein Wort von ihm genügte â weniger, nur eine Geste â und Iidas Leben wäre beendet. Doch er würde einen Unbewaffneten nicht töten und nichts tun, was einen Krieg auslösen könnte, bevor der Otoriclan darauf richtig vorbereitet war.
Falls sich Iida seiner eigenen Verletzlichkeit bewusst war, zeigte er es nicht. Er schien die Situation zu akzeptieren und verlor weder Zeit noch Energie damit, sichdagegen zu wehren. Er streckte sich neben dem Feuer aus, legte sich einen Stein als Kissen unter den Kopf und schien sofort einzuschlafen.
Shigeru musste wider Willen seinen Gleichmut bewundern: Zweifellos war Iida Sadamu ein mutiger Mann und ein schwieriger Feind. Beweise seiner Brutalität und Grausamkeit hatte er bereits gesehen.
Shigeru blieb bei den Posten und hielt Wache. Keiner seiner Männer schlief viel, abgesehen von Komori, der von der Rettung erschöpft war. Sie teilten Shigerus Unruhe, so als hätten sie einen Tiger oder einen Bären gefangen, der sie plötzlich angreifen und in Stücke reiÃen könnte. Es war eine warme, milde Nacht, die Sternbilder überstrahlten das Himmelsgewölbe. Gerade vor dem Morgengrauen regnete es Sternschnuppen, sodass es den Männern den Atem nahm und die Abergläubischen nach ihren Amuletten griffen. Shigeru dachte über den Himmel, die Götter und die Geister nach, die das Leben der Menschen regierten. Er hatte gelernt, dass sich der Wert einer Regierung an der Zufriedenheit der Menschen zeigte. Wenn der Regent gerecht war, wurden dem Land die Segnungen des Himmels zuteil. Er wollte Gerechtigkeit im Mittleren Land sichern und seine Vision von seinem Lehen als Bauernhof verwirklichen. Doch Männer wie Iida rissen Macht an sich und herrschten durch reine Willenskraft über jene um sie herum, ihre Machtgier wurde durch kein Mitgefühl, keinen Wunsch nach Gerechtigkeit gebremst. Entweder man teilte ihre Sicht und ergab sich ihnen als Gegenleistung für ihren Schutz, oder man widersetzte sich, indem man ihrem Willen den eigenen entgegensetzte und stärker war als sie. Shigeru war dankbar für diese seltsame Begegnung. Nie würde er vergessen, dass er Iida Sadamu nackt und machtlos gesehen hatte.
Als beim ersten Tageslicht die Lerchen ihr Morgenlied sangen, standen sie auf, versorgten die Pferde, aÃen eine karge kalte Mahlzeit und brachen auf. Iida ritt Komoris Pferd, das an Stricken ums Gebiss auf beiden Seiten von Kriegern gehalten wurde für den Fall, dass er zu fliehen versuchte, während Komori neben Shigerus Steigbügel lief und sie durch das gefährliche Gelände zurückführte.
Nach einer Stunde kamen sie zum Lager des Ungeheuers. Die Männer, die dort die Nacht verbracht hatten, waren zum Aufbruch bereit. Der Tohan stand neben den Pferden und hielt die Vogelstange, auf der immer noch die Falken saÃen. Hungrig sträubten sie das Gefieder und schrien durchdringend.
Als der Mann Iida sah, versuchte er sich bis zum Boden zu verneigen, ohne die Vögel loszulassen, seine Bewegungen waren ungeschickt vor Angst.
»Bring die Vögel«, befahl Iida vom Pferd aus. Der Mann richtete sich auf und ging zu ihm, er hielt die Stange so, dass sie auf Brusthöhe seines Herrn war. Iida packte einen Vogel mit den bloÃen Händen. Der wehrte sich,
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