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Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)

Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)

Titel: Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathryn Lasky
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fürchteten sie, die Obea könne sie am Nackenfell packen und wieder forttragen. Die Rüden hatten natürlich keinerlei Interesse an ihr und behandelten sie wie Luft. Im Grunde hatte Shibaan überhaupt kein Leben gehabt.
    Aber was hilft es? , seufzte sie im Stillen. Ich muss meine Pflicht erfüllen. Mehr gab es nicht für Shibaan – nur eine Aufgabe, ein Amt, mit dem sie ihren Unterhalt im Clan verdienen konnte. Und sie machte ihre Arbeit gut – sehr gut sogar. Mit der Zeit wurde sie äußerst geschickt darin, geeignete Tummfraws zu finden, wie die Plätze genannt wurden, an denen sie die Malcadh aussetzte. Shibaan wählte ihre Tummfraws mit Bedacht – Orte, die von Raubtieren aufgesucht wurden oder anfällig für Naturkatastrophen waren, zum Beispiel Überschwemmungen oder Lawinen. Wenn ein Junges überlebte und zu einem der MacDuncan-Rudel zurückfand, bewies es damit, dass es würdig war. Es konnte ein Knochennager werden und später sogar in die Vulkangarde aufsteigen. So gesehen standen die Wölfe der Hinterlande tief in ihrer Schuld. Hamisch, der gegenwärtige Anführer und Fengo des Heiligen Kreises, galt als größter Fengo seit dem ersten Clanführer in den Anfängen des Großen Königreichs Hoole.
    Und wie wurde es ihr gedankt? Überhaupt nicht. Shibaan erinnerte sich noch an den Tag, an dem sie den Welpen Hamisch, der mit einem verkrümmten Bein geboren war, in die östlichen Steilhänge der Hinterlande getragen hatte. Sie hatte ihn an einer Stelle ausgesetzt, an der die Spätwinterstürme hereinfegten. In jenem Winter war auf eine plötzliche Wärmeperiode ein letzter Sturm gefolgt. Wegen der Steilheit des Hangs waren mehrere Lawinen heruntergekracht, kurz nachdem sie das winselnde Junge dort zurückgelassen hatte. Die Lawinen waren von Weitem zu sehen und nicht zu überhören gewesen. Wie groß war daher Shibaans Schreck gewesen, als das krummbeinige Junge einen Mondzyklus später ins Lager hinkte. Duncan MacDuncan gab dem Welpen den alten Wolfsnamen Hamisch, der von dem Wort hamycch abgeleitet war, was „springen“ bedeutete. Trotz des verkümmerten Beins war Hamisch über die Lawinen gesprungen, oder durch sie hindurch, und hatte irgendwie überlebt.
    Shibaan erspähte jetzt den idealen Tummfraw direkt vor ihrer Nase, auf einem Pfad, der von wandernden Elchen benutzt wurde. Sie brauchte das Junge nur auf die ausgetretene Erde zu legen, damit es von den Hufen der riesigen Tiere zerquetscht wurde. Falls die Elche nicht kamen, würden die Eulen das Junge holen. Der Pfad lag direkt unter der Flugroute der Glutsammlereulen. Diese Eulen tauchten in tollkühnen Sturzflügen in die Feuergruben an den Hängen des Vulkans und waren immer hungrig. Ein halb totes Wolfsjunges war leichte Beute für sie.
    Shibaan ließ das maunzende Junge fallen. Und dann machte sie etwas, das sie sich in all den Jahren als Obea streng verboten hatte – sie drehte sich nach ihm um. Zum ersten Mal versuchte sie sich vorzustellen, wie dieses kleine Wesen sterben würde – das Knacken seiner winzigen Knöchelchen, wenn es von einer langen Reihe wandernder Elche zertrampelt wurde, oder sein schmerzvolles Winseln, wenn eine Eule es mit ihren Fängen packte und hochriss. Letzteres war schlimmer, weil es ein langsamerer Tod war. Zuerst kam das schreckliche Gefühl, vom Boden gezerrt zu werden, dann der Moment, in dem das arme Kleine von den scharfen Krallen und dem Schnabel der Eule zerfetzt wurde. Shibaans Nackenfell sträubte sich, ihr Schwanz stand waagerecht vom Körper ab. Rasch wandte sie sich ab und nahm den schnellsten Weg über einen Steilhang zurück zum Rudel.
    Sie war noch nicht weit gekommen, als sie ein leichtes Beben im Boden spürte. Oh nein, nicht schon wieder!, dachte sie schaudernd. Noch mehr Nachbeben . Doch das hier war schlimmer. Mit einem Mal brach der Hang vor ihr auf. Ein großer Riss klaffte plötzlich in der Erde, sie stolperte und hörte Felstrümmer hinter sich herunterkrachen. Dann folgte ein anderes Geräusch – das Knirschen ihrer Knochen, als diese zermalmt wurden.
    Die Obea konnte nicht sagen, wie lange sie bewusstlos dagelegen hatte, aber als sie wieder zu sich kam, war der Mond aufgegangen. Sie schaute zum funkelnden Sommerhimmel auf und suchte das Sternbild des Großen Wolfs – des Großen Lupus –, das die Nacht zur Höhle der Seele geleitete. Ich sterbe , dachte sie , aber komme ich auch in die Höhle der Seelen? Oder ende ich in der Dunkelwelt? Bei diesem Gedanken schauderte sie.

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