Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)
Später konnte er nicht sagen, wie lange er in der Höhle gestanden hatte – der „Höhle der Vorzeit“, wie er sie nannte. Hier brauchte er weder Schlaf noch Essen, als nährte ihn die Geschichte, die sich vor ihm entfaltete. Er entdeckte Lücken in der Geschichte. Die Bilder auf anderen Wänden stellten offenbar keine Fortsetzung dar. Die ersten Bilder zeigten Rentiere. In der Mitte kam der geschmeidige Wolfsstrom, ein Byrrgis , wie er später erfahren sollte, obwohl er doch am Anfang der Geschichte hätte stehen müssen. Für Faolan war gerade dieses Bild der Kern der Geschichte. Es gab ihm Hoffnung, denn es erinnerte ihn an die schönen Gesänge der Wölfe, die er gehört hatte, wenn er sich in den kalten Nächten aus dem Winterbau hinauswagte, während Donnerherz schlief. Jetzt wusste er, dass nicht alle Wölfe so waren wie die rohen, abgestumpften Kreaturen, die er in den Frostlanden gesehen hatte.
Es grenzte fast an Hexerei, wie gut die fließende Bewegung der Wölfe durch das Verwischen ihrer Beine eingefangen war. Aber nicht nur die Darstellung der Bewegung beeindruckte Faolan zutiefst. Ihn fesselte vor allem die Einmütigkeit, die darin zum Ausdruck kam, die Art, wie die Wölfe zu einem Ganzen verschmolzen, wie sie einander in die Hände arbeiteten und zusammenstanden, zum Wohl des Rudels und jedes einzelnen Mitglieds. Diese Wölfe waren das genaue Gegenteil der Clanlosen aus den Frostlanden. Und doch war das nur ein winziger Ausschnitt aus einer größeren Geschichte, die Faolan sich in der Höhle der Vorzeit zusammenzureimen begann.
Faolan erinnerte sich, wie Donnerherz ihm von den hervorragenden Navigationskünsten der Eulen erzählt hatte. Anders als die meisten Tiere, die sich nur am Nordstern orientierten, nahmen die Eulen alle Sterne zu Hilfe. Und so erkannte er, dass die Wölfe vom äußersten Osten nach Westen wanderten und dass die nebelhafte Eule sie leitete. Dann fügten sich andere Teile der Geschichte in seinem Kopf zusammen.
Der Wolf an der Spitze des Byrrgis war ein großer Canis dirus, ein Urzeitwolf, der Fengo genannt wurde. Er war das Oberhaupt des Clans aller Clans, wie er damals genannt wurde – der spätere Clan der MacDuncan. Faolan entdeckte noch mehr Bilder in der Höhle, die den Clan in derselben Laufordnung zeigten. Normalerweise war das die Jagdaufstellung, aber jetzt begriff er, dass sie auch noch einem anderen Zweck diente. Die Wölfe waren auf Wanderschaft. Er las an den Bildern ab, dass sie einen Ort des Eises verlassen hatten – Groß-Eis nannte er es in Gedanken. Im Lauf der Jahre hatte eine große Kälte im Land der Wölfe eingesetzt. Eine Kälte, die die warme Zeit nach und nach verdrängte. Die Winter wurden immer länger, bis das Eis das ganze Land bedeckte und auch im Sommer liegen blieb. „Eismarsch“ nannten die Wölfe diese Zeit – der Eismarsch der langen Kälte. Wo immer sie sich in ihrem Territorium hinwandten, das Eis folgte ihnen unerbittlich. Als Anführer des Clans fasste der Fengo den Entschluss, dass sie fortgehen mussten. Viele Monde lang waren sie unterwegs. Wann oder wie sie zum ersten Mal dem Geist des seltsamen Vogels begegnet waren, konnte Faolan jedoch nicht sagen.
Dann blitzte eine weitere Erkenntnis in ihm auf: Die Eule hieß Hoole. Ja, genau – Donnerherz hatte ihm von den sagenhaft klugen Eulen erzählt, die auf einer Insel mitten im Hoolemeer in einem riesigen Baum lebten, der Ga’Hoole-Baum hieß. „Hoole“ sei ein altes Wolfswort für „Eule“, hatte sie ihm erklärt. Der Name erschien ihm jetzt nicht mehr fremd, sondern hatte einen seltsam vertrauten Klang. Wie in Trance spürte er den Bildern an den Höhlenwänden nach, die sich oft in tiefere Regionen hineinwanden, wieder aufstiegen und schließlich in riesige Galerien mit himmelhohen Räumen mündeten. Es war, als folgte er dem Geist von Hoole, der die Wölfe in ein neues Land führte – die Hinterlande, wie Faolan nach und nach erkannte. Es war ein wildes, trostloses Land, anders als alles, was die Wölfe je gekannt hatten. Seltsamerweise war es zugleich ein Reich des Eises und des Feuers. Hoole hatte sie in den östlichen Teil der Hinterlande geführt, in dem der Kreis der Vulkane aufragte. Dort war der Fengo mit seinem Clan aller Clans zunächst geblieben.
Die Höhle selbst war ein Labyrinth aus zahllosen Stollen und Gängen, in dem man sich leicht verirren konnte. Tatsächlich wanderte Faolan mehrere Tage darin herum. Hunger verspürte er kaum in dieser Zeit.
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