Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)
clanlosen Wölfe so gesehen, wären sie vor Schreck erstarrt. Allein die Größe! Und der Zorn in den funkelnden grünen Augen! Ganz zu schweigen von dem verstörenden Licht hinter all dieser Wildheit, ein Licht, das sie nicht hätten benennen können – das Licht des Verstandes.
Faolan spielte mit dem Gedanken, die Wölfe anzugreifen und den Kreis aufzubrechen, damit die alte Elchkuh in Frieden sterben konnte. Aber damit würde er nur sein eigenes Leben aufs Spiel setzen. Früher oder später würde diese verkommene Wolfsrotte das Tier wieder aufspüren und auf noch viel grausamere Weise töten, nur um sich an seiner Qual zu ergötzen. Faolan wusste, dass er diesen Wölfen mühelos davonlaufen konnte, wenn sie sich ihm an die Fersen hefteten, aber im Grunde genommen wollte er nichts mit ihnen zu tun haben. Am liebsten hätte er vergessen, dass sie überhaupt existierten.
Mit diesen Gedanken im Kopf kehrte er dem grausigen Spektakel den Rücken und wanderte weiter. Im Gehen dachte er an das lange, melodische Heulen, das er vor Donnerherz’ Winterbau gehört hatte. Waren es vielleicht doch keine Wölfe gewesen? Hatte er sich getäuscht? Das Geheul dieser Clanlosen war so hässlich und misstönend wie splitternde Knochen, die die Stille der Nacht zerrissen. Er konnte einfach nicht glauben, dass die Wölfe, deren schönes, melodisches Heulen er in den Hinterlanden gehört hatte, so wie diese hier waren. Das war doch nicht möglich. Andererseits – was wusste er schon von Wölfen? Er war bei einer Grizzlybärin aufgewachsen. Plötzlich erkannte er mit glasklarer Gewissheit, dass er mehr mit einem Grizzlybären als mit einem Wolf gemeinsam hatte. Hier am Fluss gab es bestimmt Grizzlybären. Vielleicht konnte er einen schönen Sommerbau über den Steilufern aufstöbern, die mit Gletscherlilien und Iris gesprenkelt waren.
Die Einsamkeit, die schon so lange wie ein leerer Raum in ihm gähnte, diese Leere, die ihm das Gefühl gab, wie ausgehöhlt zu sein, hatte sich so stark ausgebreitet, dass sein Körper sie kaum noch zu fassen vermochte. Unaufhaltsam sickerte sie aus ihm heraus und schuf eine noch größere Leere, die immer an seiner Seite war. Einen Raum, in dem Donnerherz neben ihm gehen würde, wäre sie noch da. Ein Schweigen, das von ihrem Schnauben und Keuchen ausgefüllt wäre, wenn sie zusammen jagten oder grasten, oder vom unverwechselbaren Tappen ihrer gewaltigen Pfoten, die neben ihm ihre Spuren im Boden hinterließen. Wie war es nur möglich, dass sich das Nichts so schwer anfühlte? , fragte Faolan sich immer wieder. Wie konnte Hohlheit so erdrückend sein? Ob die Wölfe der Hinterlande jemals diese Leere ausfüllen konnten? Faolan arbeitete einen einfachen Plan für seine Zukunft aus. Als Erstes musste er zum Fluss kommen, dem Fluss, der in die Hinterlande zurückführte. Entschlossen setzte er seinen Weg fort und träumte von einem Sommerbau und langen, trägen Nachmittagen, die er mit Lachsfischen verbrachte. Vielleicht konnte er sogar andere im Fischen unterrichten, ein paar Bärenjunge zum Beispiel.
Nach tagelangem Wandern fiel ihm auf, dass das Licht allmählich dahinschwand und die Nacht zurückkehrte. Es war immer noch Hochsommer, wie er an den Hecken mit den süßen Brombeeren erkannte, die zu dieser Jahreszeit wuchsen. Aber wenn die endlosen Tage aufhörten, musste er sich dem Grenzgebiet zwischen den Frostlanden und den Hinterlanden nähern, das wusste er.
Er hatte den Fluss noch nicht erreicht, als er eine gähnende Dunkelheit vor sich wahrnahm. Eine Höhle! Es war eine große Höhle, der ideale Sommerbau für ein großes Tier wie Donnerherz. Und doch fing Faolan keinerlei Gerüche darin auf, von keinem Lebewesen. Das war merkwürdig. Der Mond stieg gerade auf, als er in die Höhle trat. Ein blasser Lichtstrahl durchbohrte die Schwärze des Höhleninneren. Im Flirren des silbrigen Mondlichts fing Faolan das Bild eines vierbeinigen Tiers auf, das direkt aus der Steinwand hervorzubrechen schien. Über dem Tier schlugen Vogelschwingen – die Flügel einer rüttelnden Eule. Die Wand pulsierte geradezu vor Leben. Er glaubte nicht nur den Atem zahlloser Geschöpfe zu hören, sondern auch das Donnern von Hufen, das Tappen von Pfoten, das Schwirren von Flügeln – und all das ging nur von dieser Felswand aus!
Wie viele? Wie viele sind es gewesen? , fragte sich die Obea, während sie ein neues Wolfsjunges in ihrem Maul davontrug. Lange würde es nicht überleben. Es war spät im Jahr geboren,
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