Der Clan der Wölfe 1: Donnerherz (German Edition)
fast schon im Mittsommer, mit einer verstümmelten Hinterpfote. Und es atmete nicht richtig. Diese Spätlinge waren selten normal. Die Obea war müde. Sie wusste selbst nicht, warum sie sich so elend fühlte. Der Winter war hart gewesen. Das Erdbeben zu Beginn des Frühjahrs hatte nicht nur das Land verwüstet, in gewisser Weise waren selbst die Jahreszeiten aus den Fugen geraten. Der Frühling war nur zögernd gekommen, fast als fürchtete er sich davor, mitten in all der Zerstörung zu erscheinen, die das Erdbeben hinterlassen hatte. Wildblumen und Moosblüten, die sonst das Grasland sprenkelten, hüteten sich, ihre Köpfe hervorzustrecken, ehe sie nicht darauf zählen konnten, einen Boden unter sich zu haben, der nicht zu beben begann. Aber jetzt schlug das Wetter um. Die Schmerzen und Kümmernisse der Obea schwanden mit der Hitze des Sommers dahin. Nur die Bitterkeit, von der sie geglaubt hatte, sie habe sich im Lauf der Zeit gelegt, regte sich wieder in ihr. Nicht wie der scharfkantige Kiesel, der sich in ihre Pfoten bohrte, sondern brennender, lebendiger. Es war ein Gefühl, das sich in ihr eingeringelt hatte wie eine Schlange, deren Fänge sie bei jedem Schritt spüren konnte. Warum ich? Warum gerade ich?
Unablässig ging ihr diese jammervolle Frage im Kopf herum. Die Obea trauerte nie um die Jungen, die sie forttrug, sondern nur um die, die sie nie geboren hatte. Warum ich? Warum gerade ich? Die Worte hallten in ihrem Kopf wider wie ein Refrain. Wie das Ächzen des Nordwindes, der aus den Frostlanden herunterfegte.
Wehmütig dachte sie an die Zeit, als ihr zum ersten Mal der Verdacht kam, dass sie vielleicht unfruchtbar war. Ein Gefährte nach dem anderen hatte sie verlassen, weil sie keine Jungen gebären konnte. Nachdem der dritte Gefährte gegangen war, zog sie weiter zu einem anderen Rudel innerhalb des Clans. Dabei hatte sie einst als schöne Wölfin gegolten. Ihr Fell war von einem satten, schimmernden Goldbraun gewesen und sie hatte zahlreiche Verehrer angezogen. Aber mit dem Älterwerden verlor ihr Fell seinen Glanz. Ihre Zitzen schrumpelten ein, bis sie nur noch die Größe von harten kleinen Bachkieseln hatten.
Die Obea wanderte von Rudel zu Rudel, bis die Nachricht sich überall verbreitet hatte, dass sie unfruchtbar war. Sie musste sich einen neuen Clan suchen und die MacDuncans waren eine gute Wahl. Dort hatte sie die Aufmerksamkeit eines großen schwarzen Wolfs namens Donegal MacDuncan erregt. Donegal war ein anständiger Wolf. Als sich zeigte, dass sie keine Jungen austragen konnte, hatte er das Oberhaupt des Clans gebeten, ihr das Amt der Obea anzuvertrauen. Damit hatte er ihr einen Gefallen getan, denn in ihrem damals schon fortgeschrittenen Alter wäre es hart für sie gewesen, als Einzelgängerin herumzuziehen. Trotzdem war ihr Kummer groß, als Donegal sich eine neue Wölfin nahm, die kurz darauf fünf gesunde Junge in die Welt setzte.
Der Platz einer Obea in der vielschichtigen Sozialstruktur eines Wolfsclans ließ sich mit nichts vergleichen. Die Obea war ranglos, weder hoch noch niedrig, und es gab kein festgelegtes Ritual, wie sie begrüßt oder die Nahrung mit ihr geteilt werden musste. Sie hatte auch keine feste Position im Byrrgis , der Laufordnung, die die Wölfe des Hinterlandes bildeten, wenn sie auf die Jagd gingen oder neues Territorium erkundeten. Trotz ihrer einzigartigen Stellung führte die Obea ein Außenseiterdasein am Rand des Rudels, genau wie die Knochennager. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem diese Wölfe eine höhere Stufe in der Rangleiter erklommen und in die Garde am Kreis der Heiligen Vulkane aufgenommen wurden.
Die anderen Rudelmitglieder mieden sie. Am schlimmsten waren die Weibchen. Einige von ihnen behaupteten sogar, die Obea hätte einen anderen Geruch und ihre Duftmarken verrieten ihre Unfruchtbarkeit. Die Obea wusste nur zu gut, wie über sie geredet wurde. Die hochträchtigen Weibchen, die den Bauch voller Junge hatten, warfen ihr heimliche Blicke zu. Manche Weibchen glaubten sogar, die Obea könne durch sie hindurchsehen, direkt in ihre Gebärmutter hinein. Deshalb wisse sie im Voraus, ob eines der Jungen, die sie in sich trugen, ein Malcadh war. Es ging sogar das Gerücht, dass die Obea andere Weibchen verfluchte und ihnen ein missgebildetes Junges anhexte. Die wenigen Malcadh , die überlebten und den Weg zum Clan zurückfanden, um dort als Knochennager zu dienen, glaubten der Obea ein Dorn im Auge zu sein. Sie gingen ihr aus dem Weg, als
Weitere Kostenlose Bücher