Der Clan der Wölfe 2: Schattenkrieger (German Edition)
waren in ihren Augen völlig übertrieben.
Ihr waren nur die Erinnerungen heilig, nicht irgendwelche sinnlosen Rituale. Obwohl sie die Notwendigkeit der Gesetze der Hinterlande einsah, erschienen sie ihr oft so tot und verstaubt wie die Knochen, in die sie eingeritzt waren. Erinnerungen waren dagegen so lebendig wie ein rauschender Fluss, nur dass der Erinnerungsfluss statt Wasser die Überreste von Gerüchen mit sich führte. Gerüche, die die Erinnerungen wachriefen.
Ohne Erinnerungen würden die Knochen, die die Gaddernock -Gesetze bewahrten, zu Staub zerfallen. Davon war die Sark überzeugt. Ihr ging es um Erfahrungen, Gefühle und Farben. Das Leben der Rudelwölfe drehte sich viel zu oft nur um die Jagd und die verzwickten Verhaltensregeln des Clans. Es gab nur blinden Gehorsam, statt echter Bewusstheit. Die Wölfe der Hinterlande lebten in einer eng begrenzten, farblosen Welt, die ihr ohne jeden Sinn erschien. Unwillkürlich schweifte ihr Blick zu den tiefen Schatten der Höhle ab. Dorthin, wo die Erinnerungskrüge wie Wächter der Vergangenheit standen. Dann warf sie einen Blick auf die Mutter des Malcadh . Die Wölfin lag in einem tiefen Schlaf, der die nächsten zwei Tage anhalten würde. Wenn sie erwachte, würde ihr vor Hunger der Magen knurren. Sie würde fortgehen, um zu jagen, und nicht zurückblicken.
Der Schnee, den Faolan erfleht hatte, war nicht gekommen. Eisige Windböen hatten erst Regen und dann Hagel gebracht. Faolan schauderte bei dem Gedanken an die Reißzähne und Klauen, die vielleicht den Weg zu dem Welpen finden würden. Einmal sah er eine kleine Rentierherde, die dem Unwetter die Stirn bot. Aber er hatte keine Lust zu jagen. Er spürte keinen Hunger, sondern nur tiefes Mitgefühl mit diesem kleinen Wesen, das er sterbend auf dem Hügelkamm zurückgelassen hatte.
Er lief den gewundenen Pfad in das flache Becken hinunter, das zum Sumpfmoor und zu der seltsamen Wölfin führte, die dort lebte. Die Sark faszinierte ihn. Sie lebte allein und obwohl die Rudelwölfe zu ihr kamen, um Glut und Heiltränke von ihr zu holen, fürchteten sie ihre Magie. Vielleicht sahen sie die Mondfäule in ihren Augen? Faolan war sicher, dass sie viel über Wolfsbräuche wusste, auch wenn sie fernab von ihnen lebte. Vielleicht konnte er etwas von ihr lernen, das ihm beim Gaddernag helfen würde. Vor allem aber konnte er ihr von dem Malcadh erzählen. Er sehnte sich danach, über das kleine lohfarbene Wolfsweibchen zu reden.
Am Eingang der Sümpfe fing Faolan zum ersten Mal den Rauchgeruch auf. Dann sah er einen Rauchfaden von einem Gebilde aufsteigen, das wie eine Erdhütte mit einem Kuppeldach aussah. Er hatte das Lager der Sumpfhexe gefunden. Die Höhle, in der sie lebte, war von einem kahlen Bereich umgeben, auf dem sie mehrere Feuer unterhielt. Aber diese hier waren anders als die offene Esse der Eulenschmiedin Gwynneth. Die Sark hatte kleine Höhlen gebaut, in denen das Feuer geschützt war.
Seltsamerweise schien sie ihn erwartet zu haben. Dabei war Faolan windabwärts von ihr gewesen. Wie hatte sie also seinen Geruch aufgefangen? Oder hatte sie ihn schon vor Stunden aufgespürt, als er noch den Hang heruntergelaufen war und der Wind in eine andere Richtung geweht hatte? Heiße Scham stieg plötzlich in ihm auf, weil er mit Heeps Knochen der Zerknirschung im Maul den Weg heraufkam. Als die Sark auf ihn zutrat, legte er den Knochen ab, sank in die Knie und dann auf den Bauch. Was musste sie nur von ihm denken? Das letzte Mal hatte er die Sark an der Feuerwand gesehen. Dort hatte sie ihn in Schutz genommen und gegen die Anführer gewettert. „Wie könnt ihr ihn jagen, ohne einen Beweis dafür zu haben, dass er wirklich die Geiferseuche hat?“, hatte sie geschimpft. „Ihr hirnverbrannten Idioten!“ Und jetzt? Wie weit war es mit ihm gekommen? Er kroch vor ihr im Staub, ein entehrter Knochennager, der auf dem Pfad der Schande wandelte.
„Also wirklich“, begrüßte ihn die Sark mit ihrer rauen Stimme, in der immer ein unterdrücktes Knurren mitschwang. „Mir brauchst du nicht mit diesem dummen alten E- und G-Kram zu kommen!“
„E- und G-Kram? Was ist das?“
„Ehrerbietung und Gehorsam. Die Unterwerfungsrituale.“
„Nein, eigentlich sind es die Zerknirschungsrituale. Ich habe gegen den Byrrgnock verstoßen, die Gesetze, die den Byrrgis beherrschen.“
„Ja, ja, ich weiß. Du musst mir nicht erklären, was der Byrrgnock ist oder was du getan hast. Ich habe es nicht anders erwartet“,
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