Der Clan der Wölfe 2: Schattenkrieger (German Edition)
die Frage, wohin seine Eltern gegangen waren. Und je angestrengter er darüber nachdachte, desto mehr verflüchtigten sich die Antworten. Es war, als ob er durch ein tiefes Schattental purzelte.
Er ahnte nichts von der Wölfin, die weit weg im Gebiet der MacDonegal lebte. Eines Abends, in der letzten Mondsichel des zweiten Hungermondes, wehte ihr ein Geruch entgegen, den sie vor fast einem Jahr am Schädel eines Bären aufgefangen hatte. Sobald ihr dieser Geruch in die Nase gestiegen war, hatte das Vergessen aufgehört. Es war wie im Frühjahr, wenn das aufbrechende Eis die nackte, rohe Erde freigab. Plötzlich war sie schutzlos ihren Erinnerungen und Gefühlen ausgeliefert, die lange unter dem starren Schneemantel des Winters eingesperrt gewesen waren. Die Schranken, die sich wie ein unsichtbares Narbengewebe tief in ihrem Inneren aufgebaut hatten, wurden einfach weggefegt. Und die Erinnerungen kehrten mit Macht zurück. Er war silbern, mein einziger silberner Sohn.
In keinem ihrer anderen Würfe war ein Welpe mit silbernem Fell gewesen. Nur damals, als sie drei Junge zur Welt gebracht hatte – zwei lohfarbene Weibchen und das silberne Männchen mit der gespreizten Pfote. In der kurzen Zeit, die Morag vergönnt war, bis die Obea sie aufstöberte, hatte sie den Kleinen gewärmt und gesäugt und ihre Nase tief in sein flauschiges Fell gesteckt. Selbst jetzt war dieses Gefühl noch lebendig in ihr. Wie schön sein Fell gewesen war! Absolut einzigartig. Als seien die Sterne vom Himmel gefallen und hätten ihm das Fell aufgewirbelt. Wäre er ihr geblieben, hätte sie ihn nach einem Sternbild benannt. Vielleicht nach Skaarsgard, dem springenden Wolf, der kleine Wolfswelpen auffing, wenn sie auf dem Weg zur Höhle der Seelen von der Sternenleiter purzelten.
Das Grau des Vergessens hatte sich bei Morag verändert. Es wurde wieder schwärzer. Doch die Dunkelheit breitete sich nicht nur in ihrer Gebärmutter aus, sondern auch in ihrem Kopf.
In der Zeit des Vergessens hatte Morag einfach weitergelebt und getan, was von einer Malcadh -Mutter erwartet wurde. Sie hatte sich einen neuen Clan und einen neuen Gefährten gesucht. Bald darauf hatte sie einen neuen Wurf zur Welt gebracht, drei gesunde Welpen mit rötlichem Fell. Sie war eine gute Außenflankerin geworden. Und obwohl ihre Beine noch stark waren und sie über lange Strecken pfeilschnell rennen konnte, trübte diese Dunkelheit jetzt manchmal ihre Sicht.
So wie beim letzten Byrrgis . Die Spitzenwölfin hatte das Zeichen zum Angriff gegeben. Morag war ausgeschert und zu den Außenflankerinnen geschossen, um ihre übliche Position einzunehmen. Wie eine Sturmwolke, die sich am Horizont erhob, brach die Moschusochsenherde über sie herein. Morag und die anderen Außenflankerinnen sollten die Herde nach Osten abdrängen, der aufgehenden Sonne entgegen, die die Beute blenden sollte. Aber Morag war jetzt schon geblendet. Die Herde, die sie nur als Staubwolke wahrnahm, blieb auch aus der Nähe verschwommen. Es war, als versinke sie im Nebel. Wie sollte sie da jemals das schwächste Tier ausmachen, das von der Herde getrennt werden musste? Das war immer ihre Stärke gewesen. Morag konnte in vollem Lauf dahinsausen und trotzdem die Herde blitzschnell nach einem Cailleach absuchen, einem altersschwachen Tier, das bald sterben würde. Moschusochsen waren langsam im Vergleich zu Rentieren oder Rotwild. Sie hätte das Cailleach mühelos erkennen müssen. Doch plötzlich stolperte Morag und im nächsten Moment lag sie am Boden. Sie spürte, wie die Byrrgis -Jäger an ihr vorbeistrichen. Großer Lupus, ich bin gestürzt! In diesem Moment wusste sie, dass ihr Leben als Außenflankerin zu Ende war.
Mairie strich an der Westflanke einer großen Rothirschherde entlang. Es war eine neue Chance für sie, sich ihre Position zu verdienen. Lupus sei gepriesen, der Knochennager schien seine Lektion gelernt zu haben. Er lief ein gutes Stück hinter ihr, aber sie würde sich jetzt nicht nach ihm umsehen. Wieder einmal war sie ausgewählt worden, mit dem Osthangrudel, dem Flussrudel und dem Blaufelsrudel zu jagen. Diesmal waren Alastrine und Stellana vom Carreg-Gaer-Rudel abkommandiert worden, um Mairie zu begleiten. Mairie stand unter scharfer Beobachtung und konnte sich keinen Fehler leisten. Wenn dieser verfluchte Knochennager sich wieder aufspielte, würde sie ihm höchstpersönlich ihre Zähne in die empfindlichste Stelle seiner Schnauze hauen. Und zwar mit dem größten Vergnügen.
Im
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