Der Club der Gerechten
verteidigte.
Dann musste sie eben noch härter arbeiten.
4. Kapitel
JoAnna Gardner musterte den Mann, der auf der Koje hinter den Gitterstäben lag. Im Moment sah er völlig harmlos aus. Seine Hände – schlanke, beinahe feminine Finger – waren über der Brust gefaltet, die sich im regelmäßigen Rhythmus seines Schlafes langsam hob und senkte. Seine Lider, die den Tic hatten, ständig zu zucken, wenn er wach war, bewegten sich jetzt kaum und verbargen die Flamme des Zorns, vor der JoAnna am liebsten zurückgewichen wäre, wenn sein Blick direkt auf sie fiel.
Jagger.
So hieß er – Jagger. Er hatte auch einen Vornamen, aber wie alle anderen auf Rikers Island benutzte sie ihn nie.
Sie benutzte auch nicht den Spitznamen, den die anderen Gefangenen ihm gegeben hatten, als er in der allgemeinen Abteilung eingesessen war.
The Dragger. Der Zauderer.
Jagger the Dragger.
Zuerst hatte sie es nicht richtig verstanden; als sie es das erste Mal hörte, vermutete sie, er müsse die Gewohnheit haben, alles hinauszuzögern. Das taten viel Gefangene – sie füllten die langen Stunden ihrer Strafe mit noch längeren Geschichten, erzählten, warum sie überhaupt nicht hierher gehörten, oder dehnten ihre Arbeit in der Küche, der Wäscherei oder im Speisesaal so lange wie möglich aus, um nicht in ihre Zellen zurück zu müssen. Aber so war Jagger nicht zu seinem Spitznamen gekommen. Er hatte ihn aus einem viel stichhaltigeren Grund erhalten.
Anfangs hatte JoAnna die Story nicht geglaubt. Sie nahm an, es handle sich nur um eines jener Gerüchte, die jeden Tag in den Zellenblocks kursierten und sich von Mal zu Mal ausgefallener und sonderbarer anhörten. Aber dann hatte sie die Fotografie gesehen.
Sie zeigte einen Toten inmitten einer großen Blutlache, die beinahe ganz den abgenutzten Teppich bedeckte, auf dem er lag. Es war nicht schwierig festzustellen, woher das viele Blut gekommen war: Der Tote war so furchtbar verstümmelt, dass man nicht mehr erkannte, ob es Mann oder Frau war.
Das Gesicht war mit Make-up verschmiert, so dick und grell aufgetragen, dass es wie das Werk eines Kindes aussah.
Die muskulösen Arme der Leiche waren in die Ärmel einer Frauenbluse gezwängt worden – einer Bluse, die so klein war, dass die Ärmel in Fetzen herunterhingen. Es gab auch einen Rock, provisorisch um die Taille der Leiche gewickelt.
»Jagger hat ihn, nachdem er ihn umgebracht hatte, in Frauenkleidung gesteckt wie eine Drag Queen – einen Transvestiten«, erklärte die Person, die JoAnna das Foto zeigte. »Schätze, er wollte so tun, als hätt er 'n Mädchen gevögelt.«
JoAnna drehte sich der Magen um, und sie ließ das Foto fallen, als könne allein die Berührung sie mit dem Irrsinn infizieren, der darauf dargestellt war.
Jetzt, in seiner Zelle schlafend, sah der Dragger absolut harmlos aus.
Sie wusste jedoch, dass er es nicht war.
Denn wäre er es, wäre Bobby Breen noch am Leben. Aber Bobby Breen lebte nicht mehr. JoAnna selbst hatte gestern seinen Leichnam gefunden, in der großen Küche, in der er und Jagger gearbeitet hatten, in einen Schrank gezwängt. Splitternackt, die Genitalien mit derselben Dose weggehackt, mit der ihm die Kehle aufgeschlitzt worden war; seine Wangen und Lippen waren mit Traubensaft purpurrot verschmiert, und als behelfsmäßigen Rock hatte der Täter ihm eine Schürze umgebunden.
Jagger hatte kein einziges Wort über das verloren, was in dem Schrank gefunden worden war. Tatsächlich hatte er überhaupt nichts gesagt – kein einziges Wort.
»Sie wollen ihn Downtown, zur Beurteilung«, hatte man JoAnna vor einer Stunde mitgeteilt, als der Captain ihr den Befehl überbracht hatte, Jagger aus dem Gefängnis in ein Krankenhaus zu verlegen. »Keine Ahnung, warum sie sich die Mühe machen. Wenn sie wissen wollen, ob er verrückt ist, brauchen sie nur mich zu fragen.«
Oder mich, hatte JoAnna gedacht. Gesagt hatte sie es nicht. Stattdessen hatte sie auf die Uhr gesehen – es war zwar nach Mitternacht, aber noch längst nicht vier Uhr morgens, der Zeitpunkt, zu dem man die Gefangenen, die nach Downtown überstellt werden sollten, gewöhnlich weckte. »Warum jetzt?«
Der Captain zuckte mit den Schultern. »Ich nehme an, man will ihn verschwinden lassen, bevor jemand Gelegenheit hat, etwas gegen ihn zu unternehmen. Breen war allgemein beliebt – Jagger wird von allen gehasst. Also, was bleibt uns übrig?«
Daher stand JoAnna Gärdner jetzt vor Jaggers Zelle im zweiten Stock der Central
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