Der Club der Gerechten
auf einen leeren Platz sinken und wollte ihre Rede eben ein letztes Mal durchlesen, als eine heisere Stimme sie ansprach.
»Sie sin' Miz Harris, nich' wa'?«
Die Frau hielt sich an einer der Haltestangen in der Mitte des Wagens fest, vielleicht um nicht zu schwanken, wenn der Zug losfuhr, eher aber, um sich gegen den billigen Rotwein zur Wehr zu setzen, aus dem offensichtlich ihr Abendessen bestanden hatte. Die Flasche – der Hals ragte aus einer zerknitterten und fleckigen Papertüte – hielt sie noch immer fest umklammert, setzte sie, noch während sie Eve aus trüben, blutunterlaufenen Augen anstarrte, an die Lippen und nahm einen weiteren Schluck. Ein paar Tropfen der dunkelroten Flüssigkeit tröpfelten ihr übers Kinn, dann hielt sie Eve die Flasche entgegen. »Mögen Sie'n Schluck?«, sagte sie, halb fragend, halb herausfordernd.
Eve spürte, dass der Mann neben ihr unbehaglich auf seinem Platz herumrutschte und brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass er seine Zeitung jetzt so hielt, dass er die schäbig gekleidete Frau nicht anzusehen brauchte, die ihre ganze weltliche Habe in einem Plastikbeutel mit sich zu tragen schien, der so zerrissen war, dass an einem halben Dutzend Stellen dreckiges Zeug herausquoll. Hinter der Frau sah Eve zwei andere Leute zurückweichen, bevor die Frau sich ihnen zuwenden konnte.
Eve zögerte einen Moment und sah dann die Frau sehr direkt an. »Nichts, was ich im Moment lieber hätte«, sagte sie. »Aber ich bin unterwegs, um eine Rede zu halten und weiß nicht so recht, ob ich vorher was trinken sollte.« Die Frau schien ihre Worte abzuwägen, sie von allen Seiten zu betrachten, als enthielten sie einen verborgenen Sinn. Als der Zug vor dem Halt in der Canal Street langsamer wurde, stand der Mann neben Eve auf und marschierte zur Tür am anderen Ende des Wagens; offensichtlich fürchtete er, der Frau, die sich noch immer an die Haltestange klammerte, zu nahe zu kommen. Als ein anderer Mann langsam auf den leeren Platz zuging, klopfte Eve darauf und lächelte die Frau an. »Warum setzen Sie sich nicht?«
Die Augen der Frau weiteten sich leicht, sie warf einen hastigen Blick auf die eine und dann auf die andere Seite, als könne sie nicht glauben, dass Eve sie meinte. Ein halbes Dutzend Leute war aufmerksam geworden und sah zu; die Frau schien drauf und dran, wegzulaufen. »Stellen Sie wenigstens Ihren Beutel einen Moment ab. Er sieht schwer aus.«
Endlich fasste die Frau einen Entschluss. Sie ließ sich auf den Sitz neben Eve fallen, stellte den Beutel zwischen ihre Beine und legte die Hand so vorsichtig darauf, als sei es ein Diamantenkoffer. »Die meisten Leute schauen weg«, sagte sie.
Eve faltete das Manuskript ihrer Rede zusammen, schob es in ihre riesige Umhängetasche, von der sie sich nie trennte, und kramte darin herum, bis sie fand, was sie suchte – einen großen Müllbeutel aus reißfestem Material und mit einer Schnur zum Zuziehen. »Vielleicht sollten wir Ihren Beutel da hineintun«, schlug sie vor. »Es könnte ziemlich stark regnen, wenn Sie aussteigen.«
»Steig vielleich' erst morgen früh aus«, antwortete die Frau aufsässig.
Eve zuckte mit den Schultern. »Laut Wetterbericht könnte es tagelang regnen. Außerdem – ist es nicht immer wieder nett, neues Gepäck zu haben?«
Plötzlich lächelte die Frau und ließ ihren Beutel lange genug los, um Eve die Hand entgegenzustrecken. »Schätz, es stimmt, was alle über Sie sagen, Miz Harris. Mein Name is' Edna Fisk. Aber alle nennen mich Eddie.«
»Mich nennen alle Eve«, erwiderte die Stadträtin. »Wenigstens meine Freunde tun es.«
Fünf oder sechs Stationen lang schwatzte Eve Harris freundschaftlich mit Edna Fisk, die während des Gesprächs ihre Weinflasche leerte, sorgfältig die leere Flasche wieder zuschraubte und zu ihren anderen Habseligkeiten in den Beutel schob. »Ich heb sie nich' auf«, erklärte sie ungefragt. »Ich hasse Abfall. Sobald ich aussteige, werfe ich sie in 'ne Mülltonne.«
»Ich wünschte, mehr Leute wären wie Sie«, stellte Eve fest. Einen Augenblick später blickten beide Frauen böse einem Mann nach, der, als er beim nächsten Halt ausstieg, eine zerdrückte und fettige Papiertüte auf seinem Platz liegen ließ. »Manche Leute sind richtige Schweine«, sagte Eve, stand auf, holte die Tüte und setzte sich dann wieder neben Edna. »Werfen Sie das weg oder soll ich ...?«
»Ich nehm sie«, sagte Edna freundlich und schob die fettige Tüte zu ihrer leeren
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