Der Code des Luzifer
sterben.
»Besorg ihm einen Rollstuhl«, sagt Tischenko zu einem der Männer. Er saß Sayid gegenüber, hob mit schuppigen Fingern dessen Kinn, sodass er seinem Blick nicht ausweichen konnte. »Du bist müde, Junge.«
Sayid nickte. Er wollte sich mit dem Mann auf kein Gespräch einlassen.
»Und dein gebrochener Fuß bereitet dir Schmerzen. Ich weiß, was Schmerzen sind. Die können einem die ganze Lebenskraft rauben bis zu dem Punkt, wo es einem egal wird, ob man am Leben ist oder stirbt. Bist du an diesem Punkt?«
»Nein, nein. Ich will nicht sterben.«
»Natürlich nicht. Du hast nichts zu befürchten. Ich werde dir keine Schmerzen bereiten, versprochen. Aber möchtest du vielleicht was Warmes zu essen und ein bisschen schlafen?«
Wieder nickte Sayid, fast hypnotisiert von dieser Flüsterstimme.
Tischenko sah die Männer an. »Nehmt ihn mit«, sagte er, als er auf die Türen des Lifts zuging.
Sie fuhren schweigend bis tief unter die Erde. In ein anderes Areal als das, das Sayid vorhin gesehen hatte. Die glänzenden Maschinen und Apparate in dieser von Hochtechnologie geprägten Umgebung summten vor gebremster Kraft. Ein Gebilde, das wie ein riesiger Ventilator aussah, ragte über Sayid auf; mindestens sechzig Meter hoch, höher als eine Kathedrale. Sayid kam sich vor wie eine Ameise, als Tischenko durch die gewaltige Halle schritt. Dicke Kabel, in kupferfarbenen Umhüllungen gebündelt, und Röhren, breiter als ein Bus, führten vom Rand der Maschine weg und verschwanden weit hinten in der Felswand. Tischenko sah zu, wie Sayid staunte.
»Du interessierst dich für Physik?«
Sayid konnte bloß nicken. Die Komplexität dessen, was er hier sah, überstieg sein Vorstellungsvermögen.
»Zwölf Jahre, siebenunddreißig Milliarden Dollar, vierzehn miteinander verbundene Röhren und ein siebenundzwanzig Kilometer langer Teilchenbeschleuniger-Ring einhundertfünfzigMeter unter der Erde – und dazu die besten Köpfe, die man für Geld kriegen kann. Jeder einzelne der Wissenschaftler hier hat seine Spezialaufgabe erledigt und ist dann gegangen. Nur ich und einige wenige Ausgewählte können ermessen, was wir hier zustande bringen.«
»Und das wäre?«, sagte Sayid und hoffte, das Ego dieses Mannes ließ es zu, dass er irgendwelche entscheidenden Informationen preisgab.
»Eine Energiequelle von einer Leistung, die nahezu unvorstellbar ist. Der Kondensator, den du hier siehst, wiegt fast neunzehntausend Tonnen. Er speichert die Energie für eine Mikrosekunde und leitet sie dann ins Innere des Bergs, wo …«
Sayid beobachtete das unbewegte Gesicht des Mannes, dessen Haut vor so langer Zeit zerstört worden war, dass es einer Maske glich. Nur in den funkelnden Augen spiegelte sich seine Vision, die jede Vorstellung überstieg. Tischenko war wieder verstummt, ohne sein Geheimnis preiszugeben, und sah Sayid an.
»Ich will dich nicht mit Einzelheiten langweilen. Du brauchst deinen Schlaf.«
Sayid stiegen Tränen in die Augen vor Angst. Die letzten Worte des Mannes klangen irgendwie endgültig.
Sie drangen tiefer in die Tunnel vor. Die Kälte hier ließ Sayids Atem dampfen und raubte ihm die letzten Kräfte. Sogar die Männer zitterten, nur Tischenko zeigte sich vollkommen unbeeindruckt. Sayid konnte sich einfach nicht mehr länger wach halten. Der Kopf sank ihm auf die Brust. Er riss ihn wieder hoch. Anscheinend hatte er Halluzinationen. Hinter einer Wand aus Eis entfernten sich verschwommene Gestalten, die Farben ihrer Kleidung verschwanden im Nichts. Er war in einer Kammer, die wie das Innere eines Eiswürfels aussah. FeuchteLuft umwehte ihn und gefror. Er zwang sich, gegen die Erschöpfung anzukämpfen, und öffnete die Augen wieder. Schmerz. Beißender Frost. Er wollte den Arm heben und seine gefrorenen Tränen wegwischen, aber irgendetwas hinderte ihn daran. Er kämpfte gegen eine unsichtbare Mauer. Sein Körper war reglos geworden. Das letzte bisschen Wärme, das er noch in sich hatte, wich unter dem Angriff der eisigen Luft.
Sterne funkelten, der Himmel war undurchdringlich schwarz. Kometen flackerten vor seinen Augen vorüber, betäubende Wogen aus dunkelblauem, violettem und grellweißem Licht umbrandeten ihn. Eine Stimme flüsterte ihm hämisch zu, seine Körperkerntemperatur dürfe nicht unter siebenunddreißig Grad absinken – bei fünfunddreißig Grad setzte Unterkühlung ein, ab dreiunddreißig würde es lebensbedrohlich.
Sayids Geist verspottete ihn mit Zahlen, die den Tod bedeuteten. Er war ja
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