Der Codex
Schlacht immer als Erstes auf der Strecke bleibt?«, fragte sie Tom.
»Nein.«
»Der Schlachtplan.«
»Glaubst du, dass unser Plan nicht funktioniert?«, fragte Tom.
Sally schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.« Sie wandte den Blick von ihm ab, dann nahm sie sich das Gewehr vor und polierte es unnötigerweise mit einem La p pen.
»Was wird deiner Meinung nach passieren?«
Sally schüttelte schweigend den Kopf. Ihr schweres goldenes Haar wogte nur so. Tom merkte, dass sie ziemlich au f geregt war. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wir müssen es tun, Sally.«
Sie nickte. »Ich weiß.«
Vernon gesellte sich zu ihnen ans Feuer, und sie tranken schweigend ihren Tee. Als sie fertig waren, schaute Tom auf seine Armbanduhr. Zwei Uhr. Er hielt nach Philip Au s schau, doch der war nicht mal aus dem Unterstand g e kommen. Schließlich nic k te er Borabay zu, und sie standen auf. Sally schwang sich das Gewehr über die Schu l ter. Die Männer legten die kleinen Palmwedelrucksäcke an, die Proviant, Wasser, Zündhölzer, den Campingkocher und andere grundlegende Dinge enthielten. Sie gingen hinte r einander her, wobei Borabay die Führung übernahm und die Krieger den Abschluss bildeten. Sie marschierten durch den Hain, bis sie freies Gelände e r reichten. Zehn Minuten später hörte Tom hinter ihnen jemand rennen. Als sie a n hielten, um zu lauschen, hoben die Krieger ihre Bogen und legten Pfeile ein. Gleich da r auf tauchte Philip auf. Er atmete schwer.
»Kommst du, um uns Glück zu wünschen?«, fragte Vernon. Seine Stimme klang äußerst ironisch.
Philip brauchte einen Moment, um wieder zu Atem zu kommen. »Ich weiß auch nicht, warum ich bei diesem dä m lichen Plan mitmache. Aber verdammt noch mal, ich lass euch nicht allein in den Tod rennen.«
61
Marcus Aurelius Hauser tastete in seinem Brotbeutel nach einer Churchill. Als er sie gefunden hatte, drehte er sie zw i schen Daumen und Zeigefinger und zog sie heraus. Nach dem Ritual des Abschneidens, Befeuchtens und Anzündens hob er sie in der Finsternis hoch, bewunderte die dicke glühende Spitze und ließ sich vom Wohlgeruch des feinen k u banischen Blattes in einen Kokon aus Eleganz und Zufri e denheit hüllen. Zigarren, so sein Eindruck, schienen im Dschungel immer besser, üppiger und leckerer zu schme c ken als anderswo.
Hauser hatte sich an einem strategischen Punkt oberhalb der Hängebrücke gut in einem Farndickicht versteckt, das ihm zudem beste Aussicht auf die Soldaten in dem kleinen Steinfort auf der anderen Seite bot. Er schob ein paar B ü sche zur Seite und spähte durch sein Fernglas. Er hatte den starken Eindruck, dass die Gebrüder Broa d bent heute Nacht etwas unternehmen würden, um die Brücke zu überqueren. Sie würden nicht abwarten, weil sie nicht a b warten konnten. Wenn sie die Gelegenheit nutzen wollten, einen Teil der Meisterwerke zu retten, mussten sie die Gruft vor ihm finden.
Hauser paffte zufrieden vor sich hin und dachte an Maxwell Broadbent. Max hatte aus einer Laune heraus Kunstgegenstände und Antiquitäten im Wert von einer ha l ben Milliarde Dollar hierher gebracht. So unerhört das auch war, für seinen Chara k ter war es typisch. Max war ein Mensch der großen Gesten, des Spektakels, der Show. Er hatte auf großem Fuß gelebt und war ebenso gestorben.
Hauser dachte an die entscheidende Fünfzig-Tages-Tour durch den Urwald, an die qualvollen Zeiten, die er in se i nem Leben nie vergessen würde. Sie hatten erfahren, dass es irgendwo in den Cerros Escondidos im Tiefland von Guatemala einen Maya-Tempel gab. Fünfzig Tage und Nächte hatten sie sich einen Weg durch zugewucherte Pf a de gebahnt. Sie waren gestochen, gebissen und zerkratzt worden, hatten gehungert und waren erkrankt. Die B e wohner des Lacandonen-Dorfes, in das sie gestolpert w a ren, hatten nicht reden wollen. Na schön, der Tempel war irgendwo in der Umgebung. Daran gab es keinen Zweifel. Aber die Dörfler hatten geschwiegen. Hauser war gerade im Begriff gewesen, ein Mädchen zum Reden zu bringen, als Max seine Pläne durchkreuzt hatte. Der Scheißkerl hatte ihm eine Kanone an den Schädel gedrückt und ihn en t waffnet. Das war der Bruch gewesen; der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Max hatte ihm befo h len, sich zu verziehen. Als wäre er irgendein Köter. Hauser hatte keine Wahl gehabt. Er hatte die Suche nach den ve r sunkenen Städten abbrechen müssen und war nach Hause gereist. Max war weitergezogen und
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