Der Codex
hatte die Weiße Stadt gefunden. Dort oben hatte er eine reich bestückte Gruft g e plündert. Und jetzt, vierzig Jahre später, war sie zu seiner eigenen Gruft geworden.
Der Kreis hatte sich geschlossen, nicht wahr?
Hauser zog genüsslich an seiner Zigarre. In den Jahren des Krieges hatte er etwas Wichtiges gelernt: Wenn die L a ge richtig schwierig wurde, wusste man nie, wer es schaffte und wer nicht. Die großkotzigen Army-Ranger mit den I gelfrisuren und aufgepumpten Arnold-Schwarzenegger-Armen fielen manchmal in sich zusammen wie zu lange gekochtes Fleisch, während die Schmalhänse der Komp a nie, die Typen von Intel oder die Elektronikfritzen, sich als wahre Stehaufmännchen erwiesen. Man konnte nie wissen. Dies galt auch für die Broadbent-Jungs. Hauser musste es ihnen neidlos zugestehen:
Sie hatten sich wacker geschlagen. Sie würden ihm noch einen letzten Dienst erwe i sen, aber dann war Feierabend für sie.
Hauser verharrte lauschend. In der Ferne hörte er ein le i ses Heulen, Johlen und Rufen. Er hob das Fernglas. Weit links vom Steinfort sah er eine aus dem Dschungel hera n fliegende Pfeilsalve. Ein Pfeil traf mit einem leisen Fing! eine Jupiterlampe.
Die Indianer griffen an. Hauser lächelte. Das war natü r lich nur ein taktisches M a növer. Es sollte dazu dienen, die Aufmerksamkeit der Soldaten von der Brücke abz u lenken. Er sah, wie sich seine Leute mit gezückten Kanonen hinter die Steinmauern duckten. Sie luden die Granatwerfer. Er hoffte, dass sie sie auch einsetzen konnten. Schließlich ha t ten sie den Auftrag, das vorzutäuschen, was sie sowieso sehr gut konnten: die Nieten mimen.
Noch mehr Pfeile segelten aus dem Wald heran. Ihnen folgte lautes Kriegsgeschrei. Die Soldaten antworteten mit einer panischen Geschosssalve. Eine Granate knallte in den Wald, ohne jemanden zu treffen. Sie blitzte nur auf und krachte.
Zum ersten Mal gingen die Soldaten richtig vor.
Nun, da die Broadbents ihren Zug gemacht hatten, wus s te Hauser genau, wie es weitergehen würde. Es war vo r herbestimmt, wie eine Abfolge erzwungener Züge beim Schach.
Und da waren sie auch schon, genau nach Plan. Hauser hob erneut das Fernglas. Die drei Brüder und ihr indian i scher Führer liefen geduckt hinter den Soldaten durch das freie Gelände und jagten auf die Brücke zu. Für wie geri s sen hielten sie sich? Sie liefen mit aller Kraft mitten in eine Falle hinein.
Hauser musste einfach lachen.
62
Sally war bis auf zweihundert Meter an den Soldaten herangerobbt, der die Brücke bewachte. Sie lag nun hinter einem umgestürzten Baum. Ihre Springfield ruhte auf dem glatten Holz. Alles war still. Sie hatte sich nicht von Tom verabschiedet. Sie hatten sich nur geküsst und dann g e trennt. Sie wollte nicht darüber nachdenken, was passieren würde. Der Plan war verrückt. Sie bezweifelte, dass die Männer es schaffen würden, die Brücke zu überqueren. Selbst wenn es ihnen gelang, selbst wenn sie Maxwell Broadbent retten konnten - sie würden nie mehr zurüc k kehren.
Doch genau darüber wollte sie nicht nachdenken. Sie ric h tete ihre Aufmerksamkeit auf das Gewehr. Die Springfield 03 stammte zwar aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, aber sie lag gut in der Hand, und ihre Zieloptik war ausg e zeichnet. Chori hatte das Gewehr bestens gepflegt. Sally hatte die Entfernung von ihrem Versteck bis zu der Stelle, an der die Soldaten sich in der Fortruine verschanzten, b e reits berechnet. Es waren zweihundertzehn Meter. Sie hatte das Zielfernrohr dementsprechend eingestellt. Die Munit i on, die Chori ihr überlassen hatte, war militärischer Sta n dard: .30-.60 mit 150er Körnung. Somit waren keine weit e ren Berechnungen nötig. Aber Justi e rungstabellen hatte sie keine. Sie hatte den gerändelten Verstellknopf nach ihrer besten Schätzung der Windbedingungen eingestellt. Zwe i hundertzehn Meter waren wirklich keine große Herausfo r derung für sie, solange das unbewegliche Ziel so groß war wie ein Mensch.
Seit sie bei dem Baumstamm angelangt war, überlegte Sally, was es bedeutete, e i nen Menschen zu töten. War sie dazu fähig? Jetzt, da es bis zum Einsatz nur noch Minuten dauern konnte, wusste sie es. Sie würde töten, um Toms Leben zu retten. Kniich saß in einem kleinen Käfig aus g e flochtenen Ranken. Sie freute sich, dass er hier war, um ihr Gesellschaft zu leisten, auch wenn seine Laune nicht die beste war. Es behagte ihm nicht, in einem Käfig zu hocken. Sally zog eine Hand voll Nüsse aus der
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