Der Codex
Tasche, reichte dem Äffchen einige und verzehrte den Rest selbst.
Gleich musste es losgehen.
Pünktlich auf die Minute hörte sie aus dem den Soldaten gegenüberliegenden Wald einen leisen Schrei. Ihm folgte ein jaulender, kreischender, heulender Stimmenchor, der eher nach hundert statt nach zehn Kriegern klang. Eine Pfeilsalve flog aus dem dunklen Wald hervor. Sie war so hoch gezielt, dass sie in einem steilen Winkel auf die Sold a ten herabfiel.
Sally drückte ihr Auge fest ans Zielfernrohr, um besser zu erkennen, was sich dort abspielte. Die Soldaten spritzten panisch auseinander, luden Granatwerfer und bezogen hi n ter der Steinmauer Stellung. Dann erwiderten sie den B e schuss. Die Salven, die sie willkürlich auf den zweihundert Meter entfernten Waldrand abgaben, waren nicht gerade gut gezielt. Eine Granate flog, ohne Schaden anzurichten, auf das Dickicht zu, landete kurz davor auf dem Boden und verging in einem blitzenden Knall. Weitere Granaten fol g ten. Sie detonierten zwischen den Wipfeln und rissen Äste von den Bäumen. Es war eine ungewöhnlich inkompetente Zurschaustellung militär i scher Macht.
Links von sich sah Sally eine Bewegung aufblitzen. Die vier Broadbents liefen über das freie Gelände geduckt auf den Brückenkopf zu. Sie mussten zweihundert Meter G e strüpp und umgestürzte Bäume überwinden, aber sie k a men recht gut voran. Die Soldaten schienen gänzlich mit dem Scheinangriff an ihrer Flanke beschäftigt zu sein. Sally beobachtete sie weiter durch das Zielfernrohr. Sie war b e reit, Tom und den anderen Deckung zu geben.
Ein Soldat stand auf und drehte sich um, um neue Granaten zu holen. Sally zielte auf seinen Brustkorb und legte den Finger auf den Abzug. Der Mann lief los, wich dem Pfei l hagel aus, entnahm einem Behälter zwei Granaten und kehrte zurück - er hatte nicht einmal aufgeschaut.
Sally ließ ihren Finger locker. Die Broadbents erreichten nun die Brücke. Sie übe r spannte eine zweihundert Meter breite Kluft. Vier geflochtene Hanftaue - zwei oberhalb, zwei unterhalb des Bodens - hielten sie in der Luft und tr u gen ihr Gewicht. Auf halber Höhe senkrecht zwischen den Tauen verlaufende Seile verliehen dem aus zusammeng e bundenen Bambusstäben bestehenden Boden Stabilität. Ein Bruder nach dem anderen schwang sich nun unter die Brücke. Sie bahnten sich, seitlich gehend, auf einem der u n terhalb verlaufenden Taue einen Weg über die Schlucht, w o bei sie die oberen Seile als Halt verwendeten. Sie waren genau zur richtigen Zeit losgega n gen: Aus der Schlucht stiegen starke Dunstschwaden auf, die die Brüder nach fünfzig Metern unsichtbar machten. Der Angriff wurde mit Geschrei und Pfeilsalven zehn Minuten lang fortgesetzt, dann kam er allmählich zur Ruhe. Es war ein Wunder. Sie waren auf die andere Seite gekommen. Der verrückte Plan hatte funktioniert.
Jetzt mussten sie nur noch zurückkehren.
63
Die wackelige, sich vor Tom erstreckende Bambusbrücke schaukelte scheppernd im Aufwind und ließ Kletterpfla n zen und Blattwerk in die riesige, unter ihm gähnende Schlucht hinabbaumeln. Der Nebel war so dicht, dass er kaum sieben Meter weit sah. Der laute Wasserfall hallte wie das dumpfe, ferne Brüllen einer wütenden Bestie aus der Tiefe zu ihm herauf. Die Brücke bebte bei jedem Schritt.
Borabay war als Erster losgegangen. Vernon und Philip waren ihm gefolgt. Tom bildete den Abschluss.
Sie gingen seitlich über das untere Tau, und zwar unte r halb des Brückenbodens, damit niemand sie sah. Tom fol g te seinen Brüdern so schnell wie möglich, ohne d a bei seine Sicherheit aufs Spiel zu setzen. Der aufsteigende Dunst ha t te das Haupttau feucht und schlüpfrig gemacht. Der g e flochtene Hanf war porös und angefault. Viele der sen k recht verlaufenden Seile waren gerissen, sodass Lücken zwischen ihnen klafften. Bei jedem Windstoß von unten schwankte die Brücke hin und her. In so l chen Fällen hielt Tom inne und klammerte sich fest, bis es vorbei war. Er versuchte, nur an den Schritt zu denken, der als nächster kam. Ein Schritt nach dem anderen, sagte er sich. Ein Schritt nach dem anderen.
Ein Seil - es war vergammelter als die anderen - löste sich unter seiner Hand auf. Über dem Abgrund erfasste ihn ein kurzes, grauenhaftes Schaudern, dann bekam er ein and e res Seil zu fassen. Tom hielt an, bis sein Herz wieder no r mal schlug, dann ging er vorsichtig weiter. Er überprüfte die Seile, indem er an ihnen ruckte, bevor er ihrer Festigkeit vertraute.
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