Der Codex
Flügelmutter.
Die Treppe machte eine Biegung und endete auf halber Höhe der Klippe an einem etwa drei Meter breiten Sims. Dort befand sich eine massive Steintür, die größte, die sie bisher gesehen hatten. Sie blickte auf das dunkle Meer der Berge und auf den von Sternen übersäten Himmel hinaus. Borabay hielt die brennende Fackel an die Tür, damit sie sie besser betrachten konnten. Die Türen der anderen Gra b kammern waren schmucklos gewesen, doch diese hier, vor der sie jetzt standen, wies ein kleines R e lief auf: eine Maya-Skulptur. Borabay verharrte, dann wich er einen Schritt z u rück und murmelte etwas in seiner Sprache. Es klang wie ein Gebet. Schließlich drehte er sich um und sagte leise: »Vaters Grab.«
65
Die grauen alten Männer hockten wie eine Versammlung von Mumien hoch über der Stadt Genf am Vorstandstisch. Julian Clyve musterte sie über das gemaserte glatte Holz hinweg. Hinter ihnen erspähte er durch eine Glaswand den Genfer See mit dem riesigen Springbrunnen. Er breitete sich wie eine weiße Blume weit unter ihnen aus.
»Wir nehmen an«, sagte der Vorstandsvorsitzende, »dass Sie den Vorschuss erha l ten haben.«
Clyve nickte. Eine Million Dollar. Das war heutzutage zwar nicht viel Geld, aber mehr als er in Yale verdiente. Diese Männer machten ein Riesengeschäft, und das wus s ten sie auch. Egal. Die zwei Millionen waren für das Man u skript. Aber sie mussten ihn noch für die Übersetzung b e zahlen. Klar, mittlerweile gab es auch andere, die diese u r alte Maya-Sprache übersetzen konnten, aber nur er b e herrschte den komplizierten archaischen Dialekt, in dem das Manuskript abgefasst war. Bezi e hungsweise Sally und er. Über die Einzelheiten des Übersetzungshonorars hatten sie noch kein Wort verloren. Doch eins nach dem anderen.
»Wir haben Sie aufgrund eines Gerüchts hergebeten«, fuhr der Vorstandsvorsi t zende fort.
Sie hatten zwar bisher Englisch gesprochen, doch Clyve beschloss, auf Deutsch zu antworten, denn er beherrschte diese Sprache fließend und wollte die Männer ein wenig aus der Ruhe bringen. »Ich bin bereit, Ihnen in jeder Hi n sicht zu helfen.«
Die graue Mauer vollzog unangenehm berührt eine Bewegung. Der Vorstandsvo r sitzende sprach weiterhin Englisch: »In den Vereinigten Staaten gibt es ein Pharma-Unternehmen namens Lampe-Denison. Ist es Ihnen b e kannt?«
Clyve antwortete wieder auf Deutsch: »Ich glaube ja. Es gehört zu den größeren Unternehmen.«
Der Mann nickte. »Das Gerücht besagt, diese Firma sei im Begriff, einen aus dem neunten Jahrhundert stammenden medizinischen Codex der Mayas zu erwerben, der zweita u send Seiten einheimischer medizinischer Rezepturen u m fasst.«
»Zwei kann es nicht geben. Das ist unmöglich.«
»Richtig. Zwei kann es nicht geben. Und doch geht dieses Gerücht. Die Lampe-Aktie ist aufgrund dieses Gerüchts in der letzten Woche um zwanzig Prozent gesti e gen.«
Die sieben grauen Männer musterten Clyve unverwandt und warteten auf seine Antwort. Clyve wechselte die Position: Er schlug die Beine übereinander, dann stellte er sie wieder auf den Boden. Ein ängstliches Frösteln überfiel ihn. Angenommen, die Broadbents hatten hinsichtlich des C o dex irgendwelche anderen Vereinbarungen getroffen ... Hatten sie aber nicht. Sally hatte ihm schließlich vor ihrer Abreise in allen Einzelheiten erzählt, wie die Dinge lagen. Und da die Broadbents im Urwald von der Außenwelt a b geschnitten waren, konnten sie auch keine Vereinbarungen treffen. Der Codex war frei verfügbar. Clyve hatte volles Vertrauen zu Sally. Sie würde sein Geheiß erfüllen. Sie ha t te was auf dem Kasten. Sie war kompetent. Und außerdem tat sie, was er wollte. Clyve zuckte die Achseln. »Das G e rücht entbehrt jeder Grundlage. Der Codex unterliegt me i ner Kontrolle. Er wird, sobald er aus Honduras kommt, d i rekt in meine Hände gelangen.«
Erneute Stille.
»Wir haben uns bisher bewusst nicht in Ihre Angelege n heiten eingemischt, Profe s sor Clyve«, fuhr der Vorsitzende fort. »Doch nun haben Sie eine Million Dollar von uns. D a mit sind nun auch wir betroffen. Vielleicht ist das Gerücht unwahr. Na schön. Dann hätte ich allerdings gern eine E r klärung dafür, wieso es übe r haupt existiert.«
»Wenn Sie damit andeuten wollen, dass ich nachlässig war, darf ich Ihnen vers i chern, dass ich mit niemandem über den Codex geredet habe.«
»Mit niemandem?«
»Außer natürlich mit meiner Kollegin Sally Colorado.«
»Und
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