Der Codex
Geduld gewonnen.
Hauser schaute sich erfreut um. Die Totenstadt war atemberaubend. Tausende mit Beigaben gefüllte Gräber. Ein mit Früchten beladener Baum, reif zum Pflücken. Ganz zu schweigen von den ganzen wertvollen Antiquitäten, Sä u len, Statuen und sonst i gen Schätzen, die da in der Weißen Stadt herumlagen. Obendrein enthielt Broa d bents Gruft noch Kunstgegenstände im Wert von einer halben Milliarde Dollar. Er würde den Codex und ein paar leichtere Objekte mitnehmen und mit dem Erlös se i ne Rückkehr finanzieren. Ja, er würde ganz sicher hierher zurückkehren. In der We i ßen Stadt lagen Milliarden herum. Milliarden.
Hauser schob eine Hand in seinen Brotbeutel, tätschelte eine Zigarre und erlaubte ihr mit Bedauern, weiterhin ihr Dasein zu fristen. Es war vielleicht keine gute Idee, sich mit Zigarrenrauch zu verraten.
Gewisse Opfer musste man eben bringen.
68
Die vier Brüder standen wie angewurzelt da und starrten das finstere Rechteck an. Sie konnten sich weder rühren noch etwas sagen. Die Sekunden tickten dahin und wurden zu Minuten. Der faulig riechende Luftstrom ebbte ab. Ke i ner wagte sich einen Schritt nach vorn, um die Grabka m mer zu betreten. Keiner wollte sehen, welches Grauen sich darin befand.
Dann hörten sie ein Geräusch. Ein Husten. Dann ein a n deres: schlurfende Schritte.
Alle waren wie gelähmt. Keiner brachte einen Ton heraus.
Wieder das Schlurfen. Tom wurde klar: Ihr Vater lebte noch. Er kam aus der Gruft heraus. Tom konnte sich noch immer nicht rühren. Den anderen erging es ebenso. Als die Spannung schier unerträglich wurde, tauchte in der Mitte des schwarzen Rechtecks ein geisterhaftes Gesicht auf. Ein weiterer schlurfender Schritt, dann wu r de in der Finsternis eine Erscheinung sichtbar. Noch ein Schritt brachte die G e stalt in die Wirklichkeit.
Er wirkte grauenhafter als eine Leiche, als er leicht wankend vor ihnen stehen blieb und blinzelte. Er war splitternackt, verschrumpelt, gebückt, schmutzig, klapperdürr und roch wie der personifizierte Tod. Rotz lief ihm aus der N a se. Sein Kiefer hing wie der eines Irren herunter. Er blinze l te, zog den Rotz hoch und blinzelte erneut ins Licht der Morgendämmerung. Sein Blick war farblos, leer, nicht b e greifend.
Maxwell Broadbent.
Die Zeit verging. Sie standen noch immer sprachlos und wie angewurzelt da.
Broadbent schaute sie an. Eines seiner Augen zuckte. Er blinzelte erneut, dann ric h tete er sich auf. Der Blick seiner tief in den Höhlen liegenden Augen huschte von einem zum anderen. Er holte lange und rasselnd Luft.
So gern Tom es auch getan hätte - er konnte sich weder bewegen noch etwas von sich geben. Er musterte seinen Vater, dessen Gestalt sich nun etwas weiter aufricht e te. Wieder huschte sein Blick über ihre Gesichter, eingehender diesmal. Er hustete. Seine Lippen bewegten sich kurz, doch er sprach kein Wort. Dann hob er eine zittrige Hand und stieß ein Krächzen aus. Tom und die anderen beugten sich vor in dem Bemühen, ihn zu verstehen.
Broadbent räusperte sich, knurrte, kam einen Schritt n ä her. Er holte noch einmal Luft und sagte endlich etwas:
»Warum habt ihr so lange gebraucht, verdammt?«
Es brüllte aus ihm heraus, hallte über die Klippen hinweg und warf in der Gra b kammer Echos. Der Bann war gebrochen. Es war ihr Vater, wie er leibte und lebte. Tom und die anderen eilten herbei, um den alten Mann zu umarmen. Maxwell Broadbent drückte sie heftig an sich - alle zugleich und dann noch einmal jeden Ei n zelnen. Seine Arme waren überraschend kräftig.
Nach einer ganzen Weile machte er einen Schritt zurück. Er wirkte nun so, als habe er seine alte Größe wiedere r langt.
»Herrgott«, sagte er und wischte sich übers Gesicht. »Herrgott. «
Alle schauten ihn an. Keiner wusste, wie er reagieren sol l te.
Der alte Mann schüttelte seinen wuchtigen grauen Sch ä del. »Herrgott, bin ich froh, dass ihr hier seid. Gott, was muss ich stinken. Schaut mich an. Ich bin schlichtweg w i derlich. Nackt, verdreckt, abstoßend!«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Philip. »Hier, nimm das.« Er zog sein Hemd aus.
»Danke, Philip.« Maxwell streifte sich das Hemd über und knöpfte es zu, wobei seine Finger schwerfällig heru m hantierten. »Wer kümmert sich eigentlich um deine W ä sche? Das Hemd sieht ja schauerlich aus.« Sein Versuch zu lachen endete in e i nem Hustenanfall.
Als Philip anfing, seine Hose auszuziehen, hob Broadbent Einhalt gebietend eine massive Hand. »Ich
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