Der Codex
Blase.«
»Einen Chirurgen?«, fragte Tom schwach.
Dunn lehnte sich zurück. »Genau.«
Toms Kehle war trocken geworden. »Was für 'ne Art Chirurg denn?«
»Einen Amputeur.«
Das Glas erreichte endlich Toms Lippen. Er trank einen Schluck, dann noch einen.
Dunn lachte laut. »Ich wette, von Pirañas, Leishmanias, Zitteraalen, Anakondas und so weiter haben Sie schon g e hört.« Er winkte geringschätzig ab. »Ihre Gefährlichkeit wird unglaublich übertrieben. Pirañas machen sich nur ü ber einen her, wenn man blutet. Anakondas sind hier im Norden ziemlich selten und fressen keine Menschen. Die Sümpfe in Honduras haben übrigens einen Vorteil: In ihnen leben keine Blutegel. Man muss sich allerdings vor den A f fenspinnen hüten ...«
»Zu schade, aber die Affenspinnen müssen wir an einem anderen Tag durchnehmen«, sagte Tom mit einem Blick auf seine Armbanduhr. Ihm fiel auf, dass Mr. Derek Dunns Hand sich unter dem Tisch befand - auf Sallys Knie.
»Wollen Sie es sich nicht noch mal überlegen, alter Knabe? Dies ist kein Land für Memmen.«
»Überhaupt nicht«, erwiderte Tom. »Ich würde bloß lieber was über Ihre Begegnung mit dem Zahnstocherfisch erfahren. «
Dunn schaute ihn mit ernster Miene an. »Das ist aber eine eher altbackene Geschichte, mein Freund.«
»Tja«, sagte Sally aufgekratzt. »Haben Sie die Reise allein gemacht? Wir suchen nämlich einen Führer und würden gern wissen, ob Sie uns jemanden empfehlen können.«
»Wo wollt ihr denn hin, Leute?«
»Brus Laguna.«
»Da sind Sie als Touristen aber weit vom Schuss!« Dunn kniff die Augen zusammen. »Sie sind nicht zufällig Schriftstellerin, was?«
Sally lachte. »Aber nein, ich bin Archäologin. Tom ist Pferdedoktor. Aber wir sind nur als Touristen hier. Wir erleben gern Abenteuer.«
»Archäologin? Hier gibt's nicht viele Ruinen. Im Sumpf kann man nämlich nicht bauen. Und im Inlandgebirge würde kein zivilisierter Mensch wohnen wollen. Oben in der Sierra Azul ist der Regenwald dichter als irgendwo sonst auf der Erde, und die Berge sind so steil, dass man nicht mal richtig rauf- und runterkrabbeln kann. Da gibt es im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern keinen Ort, der flach genug ist, um ein Zelt aufzustellen. Da muss man sich seinen eigenen Weg bahnen, und an einem harten Reisetag kann man froh sein, wenn man mehr als einen Kilometer schafft. Schlägt man sich mit der Machete eine Gasse, ist sie eine Woche später wieder völlig zugewachsen. Wenn Sie auf Ruinen aus sind, Sally, warum versuchen Sie's nicht lieber bei Copan? Vielleicht könnte ich Ihnen ja beim A bendessen etwas mehr darüber erzählen.«
Seine Hand war noch immer auf Sallys Knie, drückte und streichelte es.
»Ja, sicher«, sagte Sally. »Vielleicht. Kommen wir zu unserem Führer zurück. Können Sie uns jemanden empfehlen?«
»Einen Führer? Oh, ja. Don Orlando Ocotal ist der richtige Mann für Sie. Ein Tawahka-Indianer. Absolut zuverlässig. Der würde einen nie reinlegen wie die anderen. Er kennt das Land wie seine Westentasche. Er war auf meiner letzten Reise dabei.«
»Wie können wir ihn finden?«
»Er wohnt oben am Río Patuca, in einem Ort namens Pito Solo. Das ist die letzte echte Ansiedlung am Fluss, bevor es in die großen Inlandsümpfe geht. Er liegt etwa sechzig bis siebzig Kilometer flussaufwärts von Brus entfernt. Bleiben Sie auf dem Hauptarm des Flusses, sonst kommen Sie da nie mehr lebend raus. In dieser Jahreszeit stehen die Wälder unter Wasser. Außerdem gibt es da 'ne Milliarde Seitena r me, die in alle möglichen Richtungen führen. Das Land da oben ist praktisch unerforscht, von den Sümpfen an der Sierra Azul bis runter zum Rio Guayambre. Vierzigtausend Quadratkilometer Terra incognita.«
»Wir haben eigentlich noch nicht festgelegt, wo wir hin wollen.«
»Don Orlando. Er ist Ihr Mann.« Dunn drehte sich auf seinem Stuhl und wandte Tom sein feistes verschwitztes G e sicht zu. »Hören Sie mal, ich bin ein bisschen knapp bei Kasse. Mein Tantiemenscheck ist unterwegs und so ... Was meinen Sie: Könnten Sie vielleicht noch 'ne Runde ausg e ben?«
15
Auf dem diskret in die Kirschholztäfelung seines Büros eingebauten Monitor beobachtete Lewis Skiba den Fortschritt von Lampe-Denison Pharmaceuticals an der New Yorker Börse. Die Investoren hatten der Aktie den ganzen Tag über gewaltig Zunder gegeben. Nun wurde sie um die Zehn gehandelt. Während er zuschaute, ging sie um einen weiteren Achtelpunkt runter und landete genau bei
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