Der Codex
später hörte Tom ein Kreischen über sich im Geäst, dann fegte ein kleiner schwarzer Ball von Ast zu Ast, schoss schließlich aus einem Baum über ihm hervor, landete auf seinem Kopf und quietschte wie eine verlorene Seele. Es war Knilch.
»Du Lausebengel«, sagte Tom. »Da hast du ja nicht lange mit dem Abhauen gewartet.« Er schob das winzige Äffchen in seine Hemdtasche zurück, wo es sich einkuschelte und in Schweigen verfiel.
Der Einbaum glitt tiefer in den vom Regen verfaulten Sumpf hinein.
27
Als der Einbaum sich in dem Seitenarm befand, der zur Plaza Negra führte, erreichte das Gewitter den Höhepunkt seiner Wut. Es blitzte. Donnerschläge gellten wie Artilleriefeuer durch den Wald, manchmal nur Sekunden voneina n der getrennt. Die siebzig Meter über ihnen aufragenden Baumwipfel wankten und schwankten heftig hin und her.
Der Seitenarm teilte sich kurz darauf in ein Labyrinth seichter Wasserwege auf, in denen sich glänzende Flächen stinkenden Schlamms ausdehnten. Don Alfonso ließ von Zeit zu Zeit anhalten, um auf dem seichten Flussboden nach Stakenmarkierungen Ausschau zu halten. Der alles durchnässende Regen fiel ohne Unterlass, und die Nacht kam so behäbig daher, dass es Tom überraschte, als Don Alfonso zum Anhalten rief.
»Wir müssen wie die Wilden im Einbaum schlafen«, sagte Don Alfonso. »Hier ist ein guter Rastplatz, denn über uns sind keine dicken Äste. Ich möchte nämlich nicht vom fauligen Atem eines Jaguars geweckt werden. Wir müssen da r auf achten, dass wir hier nicht sterben, Tomasito, denn in einem solchen Fall finden unsere Seelen nie wieder den Rückweg.«
»Ich werde mein Bestes tun.«
Tom hüllte sich in sein Moskitonetz, suchte sich im Au s rüstungsstapel einen Platz und versuchte zu schlafen. Der Regen hatte zwar endlich aufgehört, aber sie waren noch immer bis auf die Haut durchnässt. Der Dschungel hallte vom Geräusch tropfenden Wassers wider. Dann und wann hörte man das Geschrei, Gestöhn und abgehackte Kreischen von Tieren. Manche dieser Laute klangen fast menschlich. Vielleicht waren sie wirklich menschlich. Vielleicht handelte es sich ja um die verirrten Seelen, die Don Alfonso erwähnt hatte. Da fiel Tom Vernon ein, der sich in diesem Sumpf verirrt hatte. Vielleicht war er sogar krank oder lag im Ste r ben. In seiner Erinnerung war Vernon immer ein hof f nungsvoller, freundlicher Junge gewesen. Sein Gesicht ha t te stets einen irgendwie verirrten Ausdruck gezeigt. Schließlich tauchte er in eine verwirrende Nacht der Trä u me ein.
Am nächsten Tag fanden sie die Leiche. Sie trieb im Wa s ser, ein Buckel mit roten und weißen Streifen. Chori stakte ihr entgegen. Der Buckel entpuppte sich als nasses, von Verwesungsgasen aufgeblähtes Hemd. Als der Einbaum die Leiche erreichte, stieg ein aggressiver Fliegenschwarm auf.
Chori brachte das Boot vorsichtig längsseits. Ein Dutzend tote Pirañas schwammen um den Toten herum. Ihre Glotzaugen waren verschleiert, ihre Mäuler standen offen. Der Regen sprühte auf sie herab.
Das Haar des Mannes war kurz und schwarz. Es handelte sich nicht um Vernon.
Don Alfonso sagte etwas, und Chori berührte den Toten mit der Stake. Das Gas entwich mit einem blubbernden Geräusch aus dem Hemd. Ein fauliger Geruch stieg auf. Chori schob die Stake unter den Körper des Toten und drehte ihn herum, wobei er den Boden als Angelpunkt einsetzte. Die Fliegen stoben summend auf. Das Wasser warf Blasen und blitzte silbern: Fische, die von unten an der Leiche gefressen hatten, fuhren furchtsam auseinander.
Tom starrte den Toten erschrocken an. Sein Gesicht war nun dem Himmel zugewandt - falls man überhaupt noch von einem Gesicht sprechen konnte. Pirañas hatten es wie auch den gesamten Bauch abgefressen. Nur die Knochen waren noch übrig. Die Nase sah aus wie ein verschrumpe l tes Stück Knorpel; Lippen und Zunge waren weg, der Mund ein aufgerissenes Loch. Eine in einer Augenhöhle gefangene Elritze zuckte hin und her und versuchte zu en t kommen. Der Verwesungsgeruch traf Tom wie ein Ha m merschlag. Das Wasser wurde aufgewühlt, als die Fische ihre Arbeit nun an der ihnen zugewandten Seite aufna h men. Hemdfetzen trieben an die Oberfläche.
»Es ist einer der Jungs aus Puerto Lempira«, sagte Don Alfonso. »Eine Giftschlange hat ihn gebissen, als er eine Lichtung schlagen wollte. Sie haben ihn zurückgelassen.«
»Woher wissen Sie denn, dass er von einer Schlange gebissen wurde?«, fragte Tom.
»Sehen Sie die toten Pirañas?
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