Der Codex
er hier, verdammt?«
»Wir sind zusammen gekommen.«
Der Mann stierte Tom starr an.
»Was fehlt ihm?«
»Er hat Fieber. Er hat seit zwei Tagen nicht mehr gesprochen.«
Tom zog den Medizinkasten hervor und wechselte in den anderen Einbaum hinüber. Der Lehrer folgte all seinen B e wegungen mit den Augen. Tom beugte sich über den Mann und betastete seine Stirn. Sie war glühend heiß. Er hatte mindestens vierzig Grad Fieber. Sein Puls war schwach und ging schnell. Tom horchte ihn mit dem Stethoskop ab. Die Lunge klang sauber; der Herzschlag war normal, wenn auch sehr schnell. Tom injizierte ihm ein Antibiotikum, das gegen alles Mögliche wirkte, sowie ein Mittel gegen Mal a ria. Ohne Zugang zu irgendwelchen diagnostischen Prü f möglichkeiten war es das Beste, was er tun konnte.
»Was für ein Fieber hat er?«, fragte Vernon.
»Das lässt sich ohne Blutuntersuchung unmöglich sagen.«
»Wird er sterben?«
»Ich weiß nicht.« Tom wechselte ins Spanische. »Haben Sie irgendeine Ahnung, welche Krankheit dieser Mann hat, Don Alfonso?«
Don Alfonso kletterte ebenfalls in das andere Boot und beugte sich über den Patienten. Er tippte auf seinen Brustkorb, schaute ihm in die Augen, fühlte seinen Puls, begu t achtete seine Hände und blickte dann auf. »Ja, ich kenne diese Krankheit gut.«
»Wie heißt sie?«
»Tod.«
»Nein«, sagte Vernon aufgebracht. »Sagen Sie das nicht. Er stirbt nicht.«
Tom bedauerte es, Don Alfonsos Meinung eingeholt zu haben. »Wir bringen ihn im Einbaum zum Lager zurück. Chori kann das Boot staken. Ich stake unseres.« Er wandte sich an Vernon. »Wir haben da drüben einen toten Führer gefunden. Wo ist der andere?«
»Er wurde nachts von einem Jaguar angefallen und auf einen Baum gezerrt.« Vernon schüttelte sich. »Wir haben se i ne Schreie und das Brechen seiner Knochen gehört. Es war ...« Der Satz endete in einem würgenden Laut. »Tom, bring mich hier weg.«
»Mach ich«, sagte Tom. »Wir schicken dich und deinen Lehrer mit Pingo nach Brus.«
Kurz nach Einbruch der Dunkelheit kehrten sie ins Lager zurück. Vernon baute eines ihrer Zelte auf, dann hievten sie den Lehrer aus dem Boot und brachten ihn hinein. Er ve r weigerte jede Nahrung und sprach kein Wort. Er starrte alle nur auf höchst beunruhigende Weise an. Tom fragte sich, ob der Mann noch geistig gesund war.
Vernon bestand darauf, die Nacht bei seinem Lehrer im Zelt zu verbringen. Am nächsten Morgen, als die Sonne sich gerade über die Baumwipfel erhob, weckte er die a n deren mit einem Hilfeschrei. Der Lehrer saß aufrecht im Schlafsack und wirkte sehr aufgebracht. Sein Gesicht war bleich und trocken, seine Augen glitzerten wie blaue Po r zellansplitter. Sein Blick fuhr wild hin und her, ohne sich jedoch auf etwas Bestimmtes zu richten. Seine Hände fuc h telten in der Luft umher.
Urplötzlich fing er an zu reden. »Vernon!«, schrie er fuchtelnd. »Oh, mein Gott, wo bist du, Vernon? Wo bin ich?«
Tom wurde mit Bestürzung klar, dass er erblindet war.
Vernon nahm die Hände des Lehrers und kniete sich ni e der. »Hier bin ich, Lehrer. Wir sind im Zelt. Wir bringen dich nach Amerika zurück. Da wird es dir wieder besser gehen.«
»Was war ich doch für ein gottverdammter Narr!«, schrie der Lehrer. Sein Mund verzog sich bei der Anstrengung des Sprechens. Er spuckte um sich.
»Bitte, Lehrer! Bitte, reg dich nicht auf. Wir fahren nach Hause, nach Big Sur, in den Ashram zurück ...«
»Ich hatte alles!«, brüllte der Lehrer. »Ich hatte Geld! Ich hatte jede Menge junge Schnallen zum Vögeln! Ich hatte ein Haus am Meer! Ich war von Menschen umgeben, die mich verehrten! Ich hatte alles.« Seine Stirnadern traten dick hervor. Speichel lief ihm übers Kinn und blieb daran hängen. Sein ganzer Körper zitterte so heftig, dass Tom sich einbildete, seine Knochen klappern zu hören. Seine blinden A u gen verdrehten sich so wild wie wirbelnde Flipperbälle.
»Wir bringen dich ins Krankenhaus, Lehrer. Sei jetzt still. Alles kommt wieder in Ordnung. Bestimmt ...«
»Doch was habe ich getan? Ha! Es hat mir nicht gereicht! Ich wollte mehr - wie ein Blödian! Ich wollte hundert Mi l lionen Dollar mehr! Und jetzt schau dir an, was aus mir geworden ist!« Die letzten Worte brüllte er förmlich, und als sie ihm über die Lippen gekommen waren, fiel er schwer nach hinten, wobei sein Körper das Geräusch eines auf den B o den klatschenden toten Fisches erzeugte. Er blieb liegen. Seine Augen standen weit offen, doch ihr
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