Der Colibri-Effekt
die er mittellang trägt, eine Art wilden Fünftagebart und
blaugraue Augen, wenn ich mich recht entsinne. Ein richtiger Germane – wie
aus dem Bilderbuch.«
»Noch
eine weitere einfache Frage, Herr Baron«, sagte Haderlein nun eindringlich,
»würden Sie Hans Kiesler, aus welchem Grund auch immer, eine solche Bluttat
zutrauen?«
Haderlein
schaute den Baron an, in dessen Kopf es sichtbar arbeitete. Die Antwort war
allerdings überzeugend. »Nein, Herr Kommissar. Hans Kiesler ist meiner Meinung
nach ein Gutmensch mit einer Art Helfersyndrom. Alles, was er tut, tut er auf
sehr außergewöhnliche Art und Weise, aber immer mit den besten Absichten.
Körperlich wäre er zweifelsohne in der Lage gewesen, diesen Mord zu begehen,
doch eigentlich kann ich mir das nicht vorstellen. Er hat es ja noch nicht
einmal über sich gebracht, den Bibern ans Leder zu gehen.« Der Baron seufzte.
Haderlein
fielen fürs Erste keine weiteren Fragen mehr ein. »Gut, Herr Baron«, sagte er
und schaltete das Band aus. »Dann gehen wir jetzt zu den Kollegen am Computer
und sehen zu, dass wir ein vernünftiges Phantombild bekommen.«
Die
Erstellung des Phantombilds ging schneller als gedacht vonstatten, da der Baron
entgegen Haderleins Erwartung klare und deutliche Anweisungen gab. Auch mit dem
Ergebnis der Computergrafik war er sehr zufrieden.
»Genau so
sieht Hans Kiesler aus«, sagte er, als der Grafiker die Zeichnung abspeicherte
und als Datei an die Fahndung weitergab. Haderlein schaute auf die Uhr. Die
Zeit war an diesem Freitag wie im Flug vergangen. Und das, obwohl er eigentlich
seit heute Morgen dienstfrei gehabt hätte. Jetzt war es schon fast sieben Uhr
abends und eigentlich Zeit für das wohlverdiente Wochenende. Aber so, wie sich
dieser Fall entwickelte, konnte er das wohl streichen. Als er überlegte, wer
den Baron wieder auf sein Anwesen zurückbringen sollte, fasste er spontan einen
Entschluss.
»Was
halten Sie davon«, sagte Haderlein, »wenn Sie mir noch schnell Ihre berühmte
Baustelle zeigen, bevor ich Sie nach Hause fahre. Immerhin spricht ganz
Nordbayern von Ihrem Projekt, und ich war noch nie dort.«
Der Baron
strahlte ihn an. »Herr Kriminalhauptkommissar, es wird mir eine Ehre sein,
Ihnen das ambitionierteste Bauprojekt des Bayerischen Landesamtes für
Denkmalpflege zu präsentieren.«
Das erste
Mal an diesem Tag erlebte Haderlein Baron von Rotenhenne vollkommen gelöst und
bar jeglichen Unmuts. Er nahm sich seine Jacke und ging dem Baron voraus zu
seinem Landrover, der mit der Fahrt auf den Burgberg seine Kletterkünste
demonstrieren konnte.
Roald
Die
Strecke nach Bergen war wunderschön und romantisch, und wäre er in einer
anderen Stimmung gewesen, hätte er das auch wahrgenommen. Die Straße
schlängelte sich am Fjord entlang, bis sie auf den größten aller norwegischen
Fjorde traf, den Hardangerfjord. Obwohl man sich noch über hundert Kilometer
vom Meer entfernt befand, erwartete man, dass jeden Moment ein Kreuzfahrtschiff
um die Ecke biegen würde. Und selbst ein Riesenliner hätte auf dem Hardanger
wie eine Nussschale ausgesehen.
Er folgte
der Küstenstraße über Alvik bis Norheimsund, wo die Straße abknickte und über
die Berge weiterverlief. Spätestens jetzt zog sich die Fahrt in die Länge, da
die gesetzlich erlaubten achtzig Kilometer pro Stunde hier bestenfalls gerade
so erreicht, aber doch niemals überschritten werden konnten. Jeder
Norwegen-Urlauber, der zurück in Deutschland wieder auf den normalen
Verkehrswahnsinn traf, sehnte sich nach der beschaulichen skandinavischen
Fahrkultur zurück.
Bis auf
knapp tausend Meter führte die Passstraße hinauf in eine noch verschneite
Landschaft. Während unten am Fjordufer zaghaft das erste Grün spross, herrschte
auf dem Fjell noch tiefster Winter. Die Norweger unterschieden ihre
Jahreszeiten ja auch nicht nach Sommer und Winter, sondern nach schneearmer und
schneereicher Zeit. Schließlich war Skilanglauf in diesem Land Nationalsport
und wurde vom König selbst und seiner Frau noch im hohen Alter betrieben. Es
war kein Zufall, dass norwegische Olympiasieger in ihrem früheren Leben auf
dünnen Brettern als Landbriefträger unterwegs gewesen waren. Auf dem Fjell
konnte man diesem Sport bis weit in den Sommer – schneearme Zeit –
hinein frönen. Während im Tal die Erde in der Frühlingssonne dampfte, passierte
der Nissan hier oben noch am Straßenrand aufgetürmte Schneewälle, aus denen ab
und an farbige Markierungsstäbe herausschauten.
Weitere Kostenlose Bücher