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Der Colibri-Effekt

Der Colibri-Effekt

Titel: Der Colibri-Effekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Vorndran
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Doch er hatte nur wenig übrig
für die Schönheiten der Natur. Einerseits musste er auf die enge Straße und
ihre plötzlichen Kehren achten, andererseits darauf, dass er aus Unachtsamkeit
nicht zu schnell fuhr. Die Höchstgeschwindigkeit von achtzig Kilometern in der
Stunde hatte auch ihren Grund. Gern lag da mal ganz überraschend ein
Felsbrocken von der Größe eines Pkws auf der Straße, oder gleich der ganze
Berghang war abgerutscht. Zudem ging ihm permanent die Frage nach seinem
eigenen Dasein durch den Kopf. Zum wer weiß wievielten Mal warf er einen Blick
auf seinen linken Unterarm: 58 43 4194 009 14 428.
    Je mehr
er über die Zahlen nachgrübelte, desto genervter wurde er ob der mannigfaltigen
Lösungsvariationen. Irgendwann krempelte er den Ärmel des braunen Flanellhemds
frustriert wieder nach unten, so musste er die bescheuerten Zahlen wenigstens
nicht mehr sehen. Sowieso sollte er sich wieder stärker auf die Straße
konzentrieren, die sich nun erneut in Richtung Tal schlängelte, wo sie auf
einen kleinen Fjordausläufer traf, bevor sie in sanften Steigungen abermals
bergan führte.
    Es begann
bereits zu dunkeln, als er Indre Arna erreichte, einen etwas größeren Ort im
Hinterland der Hafenstadt Bergen. Sein Navi wies ihn an, geradeaus
weiterzufahren, aber aus dem Augenwinkel heraus sah er ein Schild, das nach
Espeland zeigte. Spontan riss er den Wagen herum. Aus unerfindlichen Gründen
wollte er dorthin. Der Diesel heulte auf, und er folgte seinem Instinkt und der
ansteigenden Straße. Mehrfach überquerte er eine Bahnlinie, bevor ein kleiner
See in Sicht kam. Links davor verlief eine schmale Straße bergauf. Ohne zu
zögern, folgte er ihr und parkte auf einer Anhöhe. Ein Pfad führte zu einer
kleinen Aussichtsplattform etwa zwanzig Meter entfernt. Was hatte es mit diesem
Platz auf sich?
    Als er
den Pfad bis zu dem Felsvorsprung mit der wunderschönen Aussicht entlangging,
breitete sich in ihm ein unendlich trauriges Gefühl aus. Er setzte sich auf die
grobe, aus einem Baumstamm gehauene Holzbank nieder und ließ den Blick über das
Tal schweifen. Das Gefühl drang aus der Tiefe seines Herzens nach oben und
schwappte über ihn hinweg. Hemmungslos begann er zu weinen. Sein Körper zuckte,
und er hatte große Mühe, nicht von der Bank zu rutschen. Eine gigantische
Trauer drohte ihn zu verschlingen, und die resultierte nicht nur aus der
Anspannung der letzten beiden Tage. Das allein konnte nicht der Grund für
diesen Zusammenbruch sein. Er wischte sich mit den Ärmeln seines Flanellhemdes
die Tränen aus dem Gesicht und blickte in Richtung Espeland, wo die ersten
Lichter in den Häusern angegangen waren.
    Da
passierte es. Er sah sie. Ihr Bild erschien plötzlich vor seinen Augen. Eine
junge Frau mit rabenschwarzen Haaren lächelte ihn an. Sie lächelte und
lächelte, dass er meinte, seine Brust müsse zerbersten. Dann war das Bild
wieder verschwunden und ihm schwindelte. Was war das gewesen? Wer war diese
Frau? Unter ihm an der Straßenkreuzung leuchteten die Lichter eines SUV auf. Er kniff die Augen zusammen. Ein brauner Jeep
Cherokee hielt am Seeufer. Er beobachtete, wie ein Mann auf der Beifahrerseite
ausstieg und mit einem Fernglas zu ihm heraufschaute. Sofort blinkten alle
Warnlampen, und er presste sich an die hinter ihm liegende Felswand. Der Typ
suchte das Plateau um ihn herum mit seinem Feldstecher ab, dann ging er zurück
zu dem Wagen, aus dem noch ein weiterer, kleinerer Mann gestiegen war.
    Er
drängte seine Trauer und die schwarzhaarige Frau in die Tiefen seines
Bewusstseins zurück und lief zum Nissan zurück. Noch einmal schaute er
vorsichtig den Hang hinunter, aber der Cherokee und die Männer waren plötzlich
verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Das ungute Gefühl aber war geblieben.
Er überlegte nicht lange, stieg in seinen Wagen und machte sich unverzüglich
auf den Weg nach Bergen.
    In seinem
Kopf tobte ein gedanklicher Tornado. Wer war die schwarzhaarige Frau? Während
er sein Gehirn durchforstete, zog sich ein eiserner Ring um seine Brust
zusammen und schnürte ihm die Luft ab. Er konnte sich der Gefühle, die ihn
erneut zu überwältigen drohten, nur schwer erwehren, aber mit größter
Willenskraft bewahrte er die Fassung. – Hatte es etwas zu bedeuten, dass
dieser Jeep mit den beiden Männern hier aufgetaucht war? Er beschloss, alles
erst einmal als Zufall abzutun, es gab schon genug, womit er sich beschäftigen
musste. Bald würde er nicht mehr alles aufnehmen

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