Der Colibri-Effekt
Freitag.
»Kommen
Sie, Herr Kommissar, ich möchte Ihnen meine Bauleiterin vorstellen.« Voller
Enthusiasmus zupfte der Baron am Jackenärmel des Kommissars.
Gemeinsam
gingen sie zu einer etwas höher gelegenen Stelle des Hofes, wo an die neue
Burgmauer angrenzend gerade ein runder mittelalterlicher Turm in die Höhe
wuchs. An seinem Fuß stand neben einem Gerüst eine kleine, aber kräftig
wirkende junge Frau, deren dunkelbraunen gelockten Haare rechts und links unter
dem gelben Bauhelm hervorquollen. Sie war damit beschäftigt, einem Handwerker
auf der obersten Gerüstebene mit ausdrucksvollen Handzeichen etwas zu erklären.
Anscheinend erfolglos, denn schließlich wandte sie sich kopfschüttelnd ab und
begann einen Plan auf einem provisorischen Tisch neben dem Baugerüst
auszurollen.
Der Baron
trat zu ihr und klopfte ihr dezent auf die Schulter. »Hallo, Hildegard, wie
geht’s meiner Burg?«, fragte er die junge Frau.
Als sie
sich umwandte, erschien sofort ein strahlendes Lächeln auf ihrem groben, aber
sympathischen Gesicht. Dass die zwei sich mochten, sah Haderlein auf den ersten
Blick.
»Ach, der
Burgherr! Willkommen. Wo waren wir denn den ganzen Tag, Herr Baron?« Ihre Augen
blitzten angriffslustig, aber auch voller Tatendrang.
»Das ist
eine lange Geschichte, Hildegard, aber auch deshalb möchte ich dir
Kriminalhauptkommissar Haderlein vorstellen. Er hat direkt mit meiner heutigen
Abwesenheit zu tun, wenn ich das einmal so ausdrücken darf.«
Haderlein
reichte der Bauleiterin die Hand.
»Hildegard
Jahn, Architektin und Burgbauleiterin«, stellte sie sich mit festem Händedruck
vor. Ihr fragender Blick wanderte vom Kommissar zum Baron und wieder zurück.
»Kriminalpolizei? Hier auf der Baustelle? Was ist denn passiert, um Gottes
willen?« Ehrliche Besorgnis sprach aus ihrem burschikosen Gesicht.
»Nun,
Frau Jahn, es hat einen Mordfall gegeben – und zwar einen der
abscheulicheren Art. Wir haben im Gartenhaus des Herrn Baron eine Leiche
gefunden. Einer Ihrer Arbeiter hier ist womöglich in den Fall verwickelt, ein
gewisser Hans Kiesler.«
Hildegard
Jahn wich unwillkürlich einen Schritt zurück und hielt sich erschrocken eine
Hand vor den Mund. »Nein!«, rief sie erschrocken, »ist der Hans etwa …?«
»Nein,
Hans ist nicht der Tote, das habe ich der Polizei bereits erklärt«, warf der
Baron sofort ein.
»Aber
Hans Kiesler ist zusammen mit seinem Laster verschwunden. Das heißt, dass er
bis auf Weiteres unser Hauptverdächtiger ist. Was können Sie mir über ihn
erzählen, Frau Jahn?«
»Dazu
gehen wir doch besser ins Büro der Bauleitung«, schlug der Baron vor, und die
Architektin nickte stumm, während sie ihren Plan zusammenrollte und dabei den
Baron mit fragenden Blicken bedachte. Das Büro der Bauleitung befand sich in
einem alten Bauwagen, aus dessen Boden dicke Kabel herausliefen und außerhalb
der Burgmauer im Dreck verschwanden. Als sie die Stufen aus verzinkten
Gitterrosten hinaufgestiegen waren und die Architektin die Tür hinter ihnen
geschlossen hatte, musste sie sich erst einmal umständlich die Nase putzen. Auf
der Burg mochte sie die toughe Bauleiterin sein, aber die Nachricht eines
Mordes schien sie stark getroffen zu haben. Sie setzten sich an einen kleinen
viereckigen Tisch, den noch Getränkeflecken von der letzten Besprechung
zierten. Hildegard Jahn tupfte mit einem Papiertaschentuch noch immer an ihrer
Augenpartie herum.
»Frau
Jahn, es wäre schön, wenn Sie mir erzählen könnten, was Sie über Hans Kiesler
wissen. Und lassen Sie sich Zeit, denn ich möchte alles hören«, sagte Haderlein
beruhigend, während er ein kleines Aufnahmegerät auf den Tisch legte.
»Dann
werde ich mich mal nützlich machen und einen Pott Teewasser aufsetzen«, sagte
Baron von Rotenhenne. »Unsere Architektin hier hat nämlich etwas gegen Kaffee.«
Hildegard
Jahn lächelte gequält. Während sie versuchte sich zu sammeln, runzelte sie die
Stirn, und die Finger ihrer rechten Hand begannen selbstverloren immer wieder
den runden Teefleck in der Mitte des Tisches zu berühren. Dann fing sie mit
leiser Stimme an zu sprechen. »Hans kam im letzten September mit seinem Laster
zu uns und fragte, ob er mitarbeiten dürfe. Er sei gelernter Zimmermann und
gerade auf der Walz.«
»Also ein
fahrender Handwerkergeselle«, meinte Haderlein, der das ja schon wusste.
»Genau.
Wir haben im September sowieso gerade einen ganzen Schwung Arbeiter
eingestellt. Auf der Baustelle ging es in diesem Monat
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